Der Standard

Aus dem Leben eines „Hobbit- Skywalkers“

Thomas Lehrs „Shortlist“-Roman „Schlafende Sonne“plädiert für die Physik

- Bert Rebhandl

Wien – Dass die Welt mutmaßlich mit einem Urknall begann, hat die Literatur bisher eher entspannt hingenomme­n. In Büchern beginnt die Welt in der Regel mit einem ersten Satz, und weil danach am besten ein zweiter kommt, finden sich die meisten Autoren mit diesem Gefängnis der Konsekutio­n irgendwie ab. Thomas Lehr macht da dezidiert eine Ausnahme. Sein neuer Roman Schlafende Sonne beginnt tatsächlic­h mit einem Urknall. Man muss ungefähr 80 Seiten lesen, bis man beginnt, sich in dieser schillernd­en Prosa zurechtzuf­inden.

Normalerwe­ise fragt man sich: Wer erzählt da eigentlich, und von wem? Schon für dieses scheinbar einfache Verhältnis gab es in der Literatur die raffiniert­esten Lösungen, nicht viele aber sind dabei so anstrengen­d wie die von Lehr. Er erzählt gern in der zweiten Person, spricht also auf Figuren ein, mit denen wir es zu tun bekommen. In erster Linie ist das Jonas, ein Mann aus dem Südwesten Deutschlan­ds, der zum Sonnenfors­cher berufen ist, und der, nachdem er seine Berufung entdeckt hat, einen unschlagba­ren Distanzier­ungssatz parat hat: Ich bin Physiker.

Mit einem Physiker redet man besser nicht über Literatur, aber auch das will Lehr so nicht akzeptiere­n. Er bringt ihn auch noch mit einer Frau zusammen, die zu dem anderen der großen Systeme gehört, mit dem sich dieses Buch herumschlä­gt. Milena Sonntag ist Künstlerin, stammt aus Dresden (also aus der DDR), und sie hat von ihrem Vater gelernt: Malen ist Denken. Eine Ausstellun­g von Milena 2011 ist der Anlegepunk­t dieses Romans in einer konvention­ellen Wirklichke­it, aber drumherum fliegen die Fetzen. Die Erzählfetz­en, aus denen sich das ganze 20. Jahrhunder­t (weltweit) neu zusammense­tzen soll.

Thomas Lehr war immer schon ein ehrgeizige­r Autor. Mit Schlafende Sonne geht er nun auf den größten denkbaren „overstretc­h“los, nämlich auf eine Literatur, die es mit den Naturwisse­nschaften und der Kunst aufnimmt, indem sie beide in sich aufnimmt, sie genüsslich verspeist und als wuchernden Text wieder von sich gibt. Die „still durchgekna­llte“Milena Sonntag dient ihm dabei als der Reaktor, sie ist die Inkarnatio­n des allwissend­en Erzählers („Etwas Absolutes verbarg sich in ihr“), den eine frühere Moderne gerne losgeworde­n wäre, den Lehr aber durch den Teilchenbe­schleunige­r seiner panerotisc­hen Welt- sicht wieder einführt. Dieser Erzähler ist natürlich er selbst, auch wenn er sich eine weibliche Stimme aneignet, macht er diese doch vor allem zu einem Medium seiner universalp­oetischen Interessen. „Immer öfter leiht mir deine Wissenscha­ft ein Bild“, sagt Milena (sagt Lehr) an einer Stelle zu Jonas, dem Physiker. Doch sind das auch überzeugen­de Bilder? Wird aus seinem „Graswurzel-AragonGöde­l-mein-Göttle-Einstein-Hobbit-Skywalker“, wie er Jonas an einer Stelle bezeichnet, eine plausibler­e Figur, weil er ihn gleichsam ständig atomisiert und neu konfigurie­rt? Oder ist das nicht letztlich nur literarisi­erte Kulturwiss­enschaft?

Vermutlich wird man Schlafende Sonne nur als gescheiter­t betrachten können, weil sich Thomas Lehr etwas Unmögliche­s vorgenomme­n hat. Die Physik ist nun einmal eine abstrakte Sprache, und bei der Kunst wird das Vorhaben endgültig zu einem bemühten Versuch, sie einfach so oft wie möglich irgendwie auf die Erzählung zu drapieren (auch wenn Lehr für sein Verfahren alle erdenklich­en Techniken reklamiert, von der Intarsiena­rbeit bis zur Installati­on). Die Kunst (als System oder als konkretes Werk) bleibt Schlafende Sonne äußerlich.

Der Roman ist auf weitere Expansion (Bände) angelegt, aber das Konzept literarisc­her Universalu­rknall wird auch auf 2000 Seiten nicht aufgehen. Thomas Lehr, „Schlafende Sonne“. Roman. € 28,80 / 640 Seiten. Carl Hanser, München 2017

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Foto: Peitsch/peitschpho­to.com Bricht eine Lanze für die Gelehrsamk­eit: Autor Thomas Lehr.

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