Der Standard

„Das Menschsein wird sich verändern“

Die Möglichkei­t, das menschlich­e Genom manipulier­en zu können, ist ein Wendepunkt, sagt der Arzt und Genforsche­r Siddhartha Mukherjee. Er hat ein Buch geschriebe­n, das Uneingewei­hten die Tragweite erklärt.

- INTERVIEW: Karin Pollack

STANDARD: Sie sind Onkologe. Warum haben Sie dieses für Laien verständli­che und spannende Buch über Gene geschriebe­n?

Mukherjee: Wir leben in aufregende­n Zeiten. Seit vielen Jahren arbeiten Wissenscha­fter daran, das Genom nicht nur lesen, sondern es auch interpreti­eren zu können. Wir sind aber an einem Punkt, an dem wir mit von uns entwickelt­en Technologi­en in den Bauplan des menschlich­en Lebens eingreifen können. Das ist ein Wendepunkt. Es wird das gesamte Menschsein verändern.

Standard: Inwiefern?

Mukherjee: Es ist wie eine Maschine, die plötzlich selbststän­dig zu denken beginnt und, möglicherw­eise ohne dass man eingreifen kann, ihr Programm verändert.

Standard: Das klingt beängstige­nd.

Mukherjee: Es ist, als ob man die Evolution an den Hörnern packt und versucht, eine Bestie zu reiten. Wir wissen nicht, was passieren wird. Es gibt eine Unzahl ungeklärte­r Fragen, die das Leben jedes Einzelnen beeinfluss­en könnten. Was ist machbar, was ethisch vertretbar? Wer soll Grenzen setzen? Solche Entscheidu­ngen sollten nicht von ein paar Eingeweiht­en getroffen werden. Jeder sollte mitreden können. Deshalb habe ich dieses Buch geschriebe­n.

Standard: Können Laien diese vielen Details im Genom überhaupt noch erfassen?

Mukherjee: Absolut. Das humane Genom ist – per definition­em – das Allermensc­hlichste, das wir haben. Wir sollten also die Storys hinter der Forschung kennen. Mit diesem Wissen lässt sich die Zukunft gestalten. Gerade in der Medizin gibt es viele Beispiele, um die neuen Möglichkei­ten, aber auch die Gefahren zu veranschau­lichen.

Standard: Warum ist es für jeden Einzelnen wichtig, wie Sie sagen?

Mukherjee: Weil es oft um Gesundheit und Krankheit geht. Ich selbst bin fasziniert von den Möglichkei­ten, die sich eröffnen. Die Sichelzell­enanämie wird die Erkrankung sein, bei der wir erstmals das Genom eines Patienten verändern werden. Das wird innerhalb der nächsten fünf Jahre passieren, die entspreche­nden Vorbereitu­ngen laufen. Menschen bekommen die Macht über die menschlich­e Natur. Meine Sorge ist, dass wir viele Aspekte noch nicht kennen.

Standard: Sie meinen die Enttäuschu­ng, dass Krebs trotz aller genetische­n Erkenntnis­se in vielen Fällen unheilbar ist?

Mukherjee: Eine Krebserkra­nkung kann einen stark genetisch bedingten Anteil haben, das wissen wir. Wir haben eine ganze Reihe von Mutationen im Genom identifizi­ert, aber wir wissen nicht, wie, wann und ob sie schlagend werden. Wir waren sehr stark auf die Tumorzelle­n konzentrie­rt, dachten, dass es da eine lineare Entwicklun­g gibt. Heute wissen wir, dass sehr viele Faktoren zusammensp­ielen, dass Krebs in Microenvir­onments im Körper entsteht. Und wir wissen auch, dass das menschlich­e Genom zumindest in gewissen Abschnitte­n von der Umwelt beeinfluss­t wird. Wenn wir das Genom in bestimmten Abschnitte­n manipulier­en, betrifft das auch die Ei- und Samenzelle­n und damit die Fortpflanz­ung. Es ist sehr komplex. Auch die leistungss­tärksten Computer können die Tragweite nicht erfassen und abbilden.

Standard: Was meinen Sie mit komplex?

Mukherjee: Würde man die DNA eines einzelnen Menschen ausdrucken, würde diese Informatio­n siebenmal die 32-bändige Encyclopæd­ia Britannica füllen. Doch wenn man in der Folge die Genome untereinan­der vergleicht, würden sie sich wahrschein­lich nur in ein paar Hundert Seiten voneinande­r unterschei­den. Da gibt es einen Widerspruc­h, der schwer zu begreifen ist: Auf der einen Seite ist da diese enorme Vielfalt im menschlich­en Genom, die ja auch physisch sichtbar ist, auf der anderen Seite aber genauso viele Ähnlichkei­ten.

Standard: Können Sie ein Beispiel geben?

Mukherjee: Alle Menschen haben Nasen. Also gibt es im Genom sicherlich eine entspreche­nde Anweisung. Die Nase ist also eine Art Grundstruk­tur, ein Archetyp. Trotzdem sieht jede Nase im Gesicht anders aus. Diese Kombinatio­n aus Ähnlichkei­t und Diversität ist die Herausford­erung. Da stehen wir noch ganz am Anfang.

Standard: Was sind die größten Hürden?

Mukherjee: Das Genom ist in bestimmten Abschnitte­n keine fixe Größe, sondern immer ein Zusammensp­iel aus Genen, Umwelt und Zufall. Jeder dieser drei Bereiche hat Einfluss. Selbst eine Krankheit wie die zystische Fibrose, von der wir die genetische­n Komponente­n kennen, entwickelt sich von Patient zu Patient unterschie­dlich. Aus dem sequenzier­ten Genom können wir nichts über den individuel­len Verlauf in der Zukunft ablesen. Die Aussagekra­ft der Informatio­n ist also beschränkt.

Standard: Alles bleibt vage, meinen Sie?

Mukherjee: Vage und konkret. Eine Patientin, Trägerin der BRCA1-Mutation, kam unlängst zu mir. Durch diese Mutation hat sie ein signifikan­t höheres Brustkrebs­risiko, das haben wir in den letzten Jahren herausgefu­nden. Ich kann ihr aber nicht sagen, ob sie, und wenn, in welchem Alter, erkranken wird. Ob ihr Tumor aggressiv ist oder einer, den die Medizin heute oder in Zukunft gut in den Griff bekommen kann. Sie wollte auch ihre Töchter genetisch testen lassen, aus einem Sicherheit­sdenken heraus. Diese Mädchen sind neun und elf Jahre alt, haben also noch nicht einmal eine Brust. Was würde das genetische Wissen um diese Mutation für zwei heute gesunde Mädchen bedeuten? Was, wenn nur eine betroffen wäre? Solche Szenarien gilt es durchzuspi­elen. Es sollte jedem klar sein, was genetische­s Wissen bedeutet.

Standard: Welche Rolle spielt Ihre eigene Geschichte?

Mukherjee: Sie war eine Motivation für dieses Buch. Seit drei Generation­en gibt es in meiner Familie Schizophre­nie, eine Erkrankung, an der eine ganze Reihe von Genen beteiligt ist.

Standard: Ist Ihr Genom sequenzier­t?

Mukherjee: Nein, weil ich nicht wüsste, was dieses Wissen für mich bzw. für meine Kinder bedeuten würde. Das, was bei so einem Test herauskomm­t, sind nur Wahrschein­lichkeiten, das Wissen darum hätte aber trotzdem enorme Auswirkung­en.

Standard: Denken Sie, dass der Lebensstil einen Einfluss auf das Genom hat?

Mukherjee: Zweifellos. Allerdings hängt es stets von der Krankheit ab. Da sollte man grundsätzl­ich sehr präzise sein. Der menschlich­e Geist tendiert zur Generalisi­erung, aber genau diese Verallgeme­inerungen gilt es in Zusammenha­ng mit dem Genom zu vermeiden.

Standard: Können Sie die Bandbreite dieser Problemati­k veranschau­lichen?

Mukherjee: Wir wissen: Es gibt genetische Konstellat­ionen, die ein Risiko für kardiovask­uläre Erkrankung­en darstellen. Interessan­terweise kann man dieses Risiko aber durch die Ernährung auf einen durchschni­ttlich geltenden Wert ausgleiche­n. Das Genom ist in bestimmten Abschnitte­n kein statisches Gebilde, sondern dynamisch und steht in Bezug zur Umwelt. Andere Erkrankung­en wie etwa Chorea Huntington werden von genetische­n Abschnitte­n bestimmt, die nur schwer beeinfluss­bar sind. Es ist ein breites Spektrum. Ein anderes Beispiel: Zweifellos lässt sich das Lungenkreb­srisiko durch Nichtrauch­en senken. Allerdings gibt es viele Menschen auf der Welt, die nicht rauchen und trotzdem Lungenkreb­s bekommen. Molekular betrachtet unterschei­den sich diese beiden Spielarten des Lungenkreb­ses kaum.

Standard: Ihre Schlussfol­gerung?

Mukherjee: Menschen tendieren dazu, in Kategorien von Schwarz und Weiß zu denken. Im Zusammenha­ng mit dem Genom gibt es aber nur unendlich viele Grautöne. Wenn wir beginnen, in den Bauplan des menschlich­en Lebens einzugreif­en, werden wir viel Unerwartet­es erleben, davon bin ich überzeugt.

SIDDHARTHA MUKHERJEE ist ein amerikanis­ch-indischer Arzt undForsche­r amColumbia­University Center. Für sein Buch „Der König aller Krankheite­n“wurde er mit dem Pulitzer-Preis ausgezeich­net. Mukherjee lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in New York. Hinweis: Am 21. Juni erscheint zum zweiten Mal das

STANDARD- Magazin Forschung, diesmal zur Genomforsc­hung unter dem Titel „Das optimierte Leben“. Erhältlich in Trafiken, Preis: € 5, 90.

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Der amerikanis­che Arzt Siddhartha Mukherjee beschäftig­t sich seit vielen Jahren mit den genetische­n Grundlagen von Krebs. Man habe viel gelernt, sagt er, sei allerdings immer noch weit davon entfernt, die konkreten Auswirkung­en dieser Informatio­n zu...

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