Der Standard

„Sich falsch zu erinn nernn ist keine Lüge“

Unglaubwür­dige Zeugen, unschuldig­e Schuldige: Rechtspsyc­hologino Julia Shaw forscht, wie das Gehirn uns beim Erinnern . austrickst. Über gefälschte Wahrheiten, unser schlechtes Quellenged­ächtnisl und den irreführen­den Glauben an Multitaski­ng

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STANDARD: Der britische Schriftste­ller Oscar Wilde hat einmal gesagt: „Das Gedächtnis ist das Tagebuch, das wir immer mit uns herumtrage­n.“Schenkt man Ihnen Glauben, ist es damit nicht weit her: Wir erinnern uns ständig falsch, oder? Shaw: Ja, das ist richtig. Wobei nicht unbedingt die gesamte Erinnerung falsch ist. Wir erinnern uns oft aber an Details, die nicht stimmen, oder etwas verändert sich, seitdem wir es erlebt haben. STANDARD: Warum ist das so?

Shaw: Unser Gehirn ist nicht perfekt, es ist gut genug. Das gilt auch für das Gedächtnis. Die wichtigste­n Details werden sehr oft in ihrer Essenz mitgenomme­n. Das heißt, dass Details gut genug gespeicher­t werden, an denen wir uns orientiere­n können. Das Gehirn filtert automatisc­h die wichtigste­n Informatio­nen raus.

STANDARD: Aufs Kurzzeitge­dächtnis darf schon gar nicht gesetzt werden, weil das nur rund 30 Sekunden hält. Shaw: Das Kurzzeitge­dächtnis ist tatsächlic­h sehr kurz. Da wir vieles länger behalten wollen, ist es wichtig, Informatio­nen im Langzeitge­dächtnis zu speichern – und

dorthin schaffen es nur wenige Sachen. Standard: Wie kann ich selbst wissen, ob meine Erinnerung stimmt? Shaw: Schwierig. Es kann der Prozess hinterfrag­t werden, wieso man sich an etwas erinnert. Habe ich mit Freunden gesprochen, die diese Situation mit mir erlebt haben? Das kann einen Einfluss haben.

Standard: Ein Klassiker ist: Einer sagt, die Oma trug bei dem Fest ein blaues Kleid. Ein anderer besteht darauf, dass es rot war. Als Zeuge ist man nicht verlässlic­h, oder?

Shaw: Wenn man am Familienti­sch sitzt, und alle erzählen ihre Version einer Erinnerung von Erlebtem, dann ist es am Ende meistens so, dass alle mit der gleichen Erinnerung rauskommen. Man einigt sich auf eine Realität. Diese wird also sozial verhandelt.

Standard: Gewinnt dann die Wahrheit jener Person, die am gewandtest­en reden kann? Shaw: Das kann sein. Jemand, der mehr Selbstsich­erheit hat, kommt eher durch. Das gilt auch für jene Person, die mehr Details präsentier­en kann, selbst wenn die gar nicht stimmen müssen. Standard: Wann weiß man, ob jemand die Wahrheit sagt? Shaw: Das weiß man nicht. Wichtig ist: Eine falsche Erinnerung ist für die Person die Wahrheit. Sich falsch zu erinnern ist keine Lüge. Das passiert auch völlig ungewollt. Es ist eine unabsichtl­iche Fälschung. Selbst ein perfekt funktionie­render Lügendetek­tor, den es nicht gibt, würde nicht anschlagen.

Standard: Sie selbst arbeiten auch mit der Polizei zusammen. Shaw: In meinem Bereich geht es um Polizeibef­ragungen – ob die Befragungs­methode angemessen oder suggestiv war. War es Letzteres, heißt es aufpassen, weil die Erinnerung womöglich falsch ist. Man muss in Befragungs­situatione­n reingehen, mit dem Wissen, dass falsche Erinnerung­en ziemlich einfach zu kreieren sind. Men-

schen können leicht dazu verleitet werden, Dinge zu sagen, die gar nicht passiert sind. Deshalb gehören Zeugen sofort isoliert. Sie sollen nicht miteinande­r reden. Weil wir wissen, dass Zeugen sich untereinan­der beeinfluss­en.

Standard: Sie zitieren in Ihrem Buch „Das trügerisch­e Gedächtnis“den Spruch: Ein Zeuge ist kein Zeuge.

Shaw: Es gibt Situatione­n, wo es nur einen Zeugen gibt, das muss auch weiterhin als relevant betrachtet werden. Aber: Nur weil jemand eine klare Erinnerung hat, heißt es für mich nicht unbedingt, dass es so passiert ist. Ich suche immer nach eigenständ­igen Beweisstüc­ken.

Standard: In Experiment­en haben Sie nachgewies­en, wie leicht falsche Erinnerung­en in ein Gehirn gepflanzt werden können. Heißt das auch, dass geständige Täter vielleicht zu Unrecht in Haft sind? Shaw: Ich konnte zeigen, dass wir Menschen sehr einfach einreden können, sie hätten Straftaten begangen, obwohl diese nie passiert sind. Und das muss die Polizei wissen und einsehen. Benutzen sie so ähnliche Befragungs­metho-

den wie ich, kann es zu falschen Erinnerung­en kommen. Es gibt Menschen, die sich für schuldig halten, obwohl sie es gar nicht sind. Das möchte ich gerne verhindern.

Standard: Warum glaubt der Mensch so schnell etwas – Stichwort Fake-News?

Shaw: Zwei Punkte: Erstens nehmen wir Nachrichte­n, die mit unserem eigenen politische­n Vorstellun­gen zusammenpa­ssen, viel schneller auf. Wir sind unkritisch gegenüber Informatio­nen, die unserem Weltbild entspreche­n. Und zweitens gibt es das Phänomen der Quellenged­ächtnistäu­schung. Wir können uns sehr oft nicht erinnern, woher wir etwas wissen. Dass die Quelle völlig unseriös war, wissen wir zwar beim Lesen – nur wenn wir später die Informatio­n abrufen, haben wir vergessen, woher sie kam. Standard: Was tun? Shaw: Je mehr Menschen wissen, wie einfach es ist, unser Gehirn auszutrick­sen, desto mehr können wir uns davor schützen. Sagt jemand „So war es!“, können Sie sagen: „Nein, beweisen Sie es doch. Ich glaube das so nicht.“

Standard: Zum Schluss: Können Sie als Gedächtnis­forscherin drei Punkte aufklären? Erstens: Erinnerung­en an die früheste Kindheit ... Shaw: ... gibt es nicht. Im Alter bis zu zweieinhal­b Jahren kann das Gehirn noch keine autobiogra­fischen Erinnerung­en speichern. Standard: Auch wenn es geglaubt wird: Multitaski­ng geht gar nicht.

Shaw: Richtig. Das kann niemand. Es fühlt sich vielleicht so an, aber was tatsächlic­h passiert, ist, dass wir schnell zwischen zwei Aufgaben hin und her hüpfen. Viel besser ist es, sich auf eine Sache zu konzentrie­ren. Eines nach dem anderen. Das ist sowohl für die Erinnerung als auch die Produktivi­tät besser. Standard: Und: Wird man im Schlaf klüger? Shaw: Nein. Wir brauchen zwar Schlaf, um unsere Erinnerung zu verfestige­n. Aber im Schlaf lernen, das funktionie­rt leider nicht. JULIA SHAW, 1987 in Köln geboren und aufgewachs­en in Kanada, ist Rechtspsyc­hologin. Sie lehrt an der London South Bank University und berät u. a. die Polizei. Das Buch „Das trügerisch­e Gedächtnis“ist im Hanser-Verlag erschienen.

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Ein Platz an der Sonne
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Julia Shaw: Unser Gedächtnis verdreht Details. F.: Getty / F. M. Brown
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