Der Standard

Eine Tochter der Zeit

Im postfaktis­chen Zeitalter der Fake-News gilt die Wissenscha­ft als rettender Hort des „wahren Wissens“. Doch wie „ewig“sind die von der Forschung geschaffen­en Fakten? Oder besteht die besondere Glaubwürdi­gkeit wissenscha­ftlicher Tatsachen nicht gerade da

- Klaus Taschwer

Es ist, wie so oft, alles schon einmal in ähnlicher Weise da gewesen. Angesichts der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidente­n, des Brexits und des Siegeszugs von falschen Nachrichte­n identifizi­erten einige besonders scharfsinn­ige Beobachter auch eine mögliche Mitschuld in „gewissen akademisch­en Zirkeln“: Postmodern­e oder relativist­ische Denker hätten den Boden für den Anbruch des postfaktis­chen Zeitalters aufbereite­t und seien mit schuld an dessen politische­n Folgen.

Ein ganz ähnliches Argument wurde nach 1945 strapazier­t, als man darüber nachdachte, wie es dazu kommen konnte, dass der Nationalso­zialismus in Deutschlan­d die Macht übernommen und große Teile Europas mehr oder weniger kampflos erobert hatte. Auch damals wurden ein in der Zwischenkr­iegszeit angeblich herrschend­er Relativism­us in der Wissenscha­ft und der damit angeblich verbundene Verfall der Werte als mögliche Mitverursa­cher diskutiert.

Philipp Franks große Frage

Einer, der sich damals mit diesen Fragen befasste, war der aus Österreich stammende Physiker, Mathematik­er und Philosoph Philipp Frank, der 1912 Nachfolger

von Albert Einstein an der Universitä­t Prag geworden war und 1938 aus Flucht vor den Nazis in die USA emigrierte, wo er nach einigen Jahren eine Professur an der Harvard University erhielt. 1952 veröffentl­ichte Frank, der dem Wiener Kreis nahestand, ein Büchlein, das im Titel eine große Frage aufwarf: Wahrheit – relativ oder absolut?

Frank stand, wie der renommiert­e schottisch­e Wissenscha­ftsphiloso­ph David Bloor im Gespräch mit dem STANDARD erläutert, auf der Seite der Relativist­en: In der Wissenscha­ft gebe es, vereinfach­end formuliert, ganz einfach deshalb keine absoluten Wahrheiten, weil genau das den wichtigste­n Grundprinz­ipien guter wissenscha­ftlicher Praxis widersprec­he.

Das ist auch jene Position, die Bloor selbst vertritt, der in den 1970er-Jahren eine Denkrichtu­ng namens „Edinburgh School“mitbegründ­ete: Laut seinem sogenannte­n „Starken Programm“würden beim Zustandeko­mmen wissenscha­ftlicher Erkenntnis­se auch soziale Faktoren eine wichtige Rolle spielen.

Untergräbt das nicht die besondere Glaubwürdi­gkeit wissenscha­ftlicher Tatsachen? „Nein“, widerspric­ht Bloor, der eine Woche nach der US-Wahl einen UniVortrag zum Thema „Relativism­us und Mister Trump“gehalten hat, sanft aber mit Nachdruck. „Damit soll gerade nicht gezeigt werden, wie falsch oder fehleranfä­llig Fakten sind, die von der Wissenscha­ft geschaffen werden“, so der leidenscha­ftliche Trump- und Brexit-Gegner.

Es gehe um etwas ganz anderes: „Was heute als ,wissenscha­ftliche Tatsache‘ gilt, unterliegt beständige­n Widerlegun­gen, Veränderun­gen und Erweiterun­gen.“Genau diese Dynamik der wissenscha­ftlichen Erkenntnis­produktion und das ständige Aktualisie­ren des wissenscha­ftlichen Wissens trügen paradoxerw­eise zur seiner besonderen Robustheit bei.

Nur vorläufige Hypothesen

„Das zu vermitteln ist aber nicht ganz einfach“, sagt Bloor und erinnert sich an einen Artikel, der Ende April kurz nach dem „March for Science“in der britischen Zeitung Guardian erschienen ist. „Dieses Plädoyer für Forschung kreiste von vorn bis hinten um den Wahrheitsa­nspruch der Wissenscha­ft.“Aber mitten in diesem Text sei ein Absatz gestanden, der recht unvermitte­lt kam und so gar nicht dazupasste: „Ohne den Namen von Karl Popper zu erwähnen, hieß es da plötzlich, dass die Besonderhe­it wissenscha­ftlicher Tatsachen und Theorien genau darin bestehe, dass sie widerlegt werden.“

Das habe bei den Lesern sicher einige Verwirrung gestiftet, vermutet Bloor. Denn Poppers Kernthese, dass jede wissenscha­ftliche Aussage streng genommen nur eine Hypothese ist, entspricht nicht unbedingt jenem Bild, das viele Wissenscha­fter selbst von ihrem Tun haben oder das in den Medien über Wissenscha­ft verbreitet wird. Und wir gestehen gerne: Auch hier im Wissenscha­ftsteil dieser Zeitung ist immer wieder von neuen wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen als „Fakten“die Rede, von denen sich viele über kurz oder lang als falsch, irrig oder ergänzungs­bedürftig herausstel­len.

Dieses idealisier­te Bild von Wissenscha­ft will auch die Wissenscha­ftsforsche­rin Helga Nowotny, die ehemalige Präsidenti­n des Europäisch­en Forschungs­rats ERC, zurechtrüc­ken. In einem Text unter dem Titel „Die Wissenscha­ft darf sich nicht zurückzieh­en“plädiert die emeritiert­e Professori­n der ETH Zürich und der Uni Wien dafür, besser darzustell­en, worin wissenscha­ftliches Arbeiten besteht und wie Forschung funktionie­rt. Denn im Normalfall schla- gen Experiment­e fehl, und nur in seltenen Fällen führen sie zu publizierb­aren Ergebnisse­n, zu neuen Erkenntnis­sen – oder eben, noch besser, zur Widerlegun­g bisheriger Annahmen.

Wie Tatsachen entstehen

Wie Bloor so verweist auch Nowotny in dem Zusammenha­ng auf die 1935 erschienen­e und heute längst klassische Arbeit Entstehung und Entwicklun­g einer wissenscha­ftlichen Tatsache von Ludwik Fleck. Der polnische Immunologe und Erkenntnis­theoretike­r rekonstrui­erte in diesem Werk, das unter anderem auch Thomas S. Kuhns Die Struktur wissen

schaftlich­er Revolution­en nachhaltig beeinfluss­te, anhand der Entdeckung des Syphiliser­regers, wie aufwendig die Herstellun­g, aber auch der Nachweis einer wissenscha­ftlichen Tatsache sein können.

Diese komplizier­ten Entstehung­sgeschicht­en wissenscha­ftlicher Fakten sollten viel stärker vermittelt werden, fordert Nowotny, die beim Wiener March for Science an vorderster Front beteiligt war. Denn wenn man in der Öffentlich­keit besser versteht, wie wissenscha­ftliche Tatsachen entstehen, wie Hypothesen überprüft werden oder Forscher von kritischen Kontrovers­en doch zum Konsens kommen, dann kann Wissenscha­ft in der Gesellscha­ft auch sehr viel besser als „Gegengift“gegen Fake-News wirken.

David Bloor und Helga Nowotny plädieren für ein realistisc­hes Bild wissenscha­ftlicher Praxis. Fotos: Christian Fischer; privat

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