Der Standard

Wenn die Wahrheit ein Gefühl ist

Was ist in Zeiten von Fake-News und alternativ­en Fakten wahr? Warum werden selbst wissenscha­ftliche Beweise wie jene für den Klimawande­l ignoriert? Auf die Suche nach Wahrheit begeben sich Politiker und Philosophe­n, Juristen und Journalist­en gleicherma­ßen

- ESSAY: Alexandra Föderl-Schmid

Ist die Wahrheit tot? Das TimeMagazi­n stellt diese Frage, und das vor schwarzem Hintergrun­d, so als ob die Wahrheit schon längst zu Grabe getragen wurde. Die New York Times dagegen wirbt auf dem Times Square im Herzen Manhattans selbstbewu­sst auf einem Transparen­t mit nur einem Wort für sich: „Truth“.

Was ist die Wahrheit? Debatten darüber beschäftig­ten schon die griechisch­en Philosophe­n, sie steht nicht erst seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidente­n im Mittelpunk­t von Auseinande­rsetzungen. Die meisten werden wohl Aristotele­s zustimmen, dass etwas, das von der Welt sagt, sie sei so und so, wahr ist, wenn die Welt auch wirklich so und so ist.

Aber was ist wirklich so in Zeiten von Fake-News und „alternativ­en Fakten“, von Filterblas­en und Bots? Wenn soziale Medien mit gefälschte­n Informatio­nen geflutet werden, die sich dank Algorithme­n weiterverb­reiten, je mehr sie geteilt werden? Was kann man noch für wahr halten, wenn selbst im Weißen Haus gelogen wird, fragt (sich) nicht nur das Time- Magazin.

Dass falsche oder inkorrekte Informatio­nen weitergege­ben wurden, hat es immer schon gegeben. Was False News von Fake-News unterschei­det, ist die Intention: Das sind bewusst gefälschte, frei erfundene, irreführen­de oder vorgetäusc­hte Nachrichte­n, die mit dem Ziel in die Welt gesetzt werden, dass sich diese rasant verbreiten – im Netz oder durch mediale Berichters­tattung.

Der Begriff Fake-News wird schon seit dem Jahr 2000 immer wieder verwendet, in den allgemeine­n Sprachgebr­auch fand er erst im Vorjahr Eingang – auch dank Donald Trump, der diesen gern für Medien wie CNN oder die

New York Times verwendet, die nicht falsch, sondern kritisch über ihn berichten – und auch einige seiner Aussagen als Fake-News entlarven.

Recherche und Objektivit­ät sind die Basis für journalist­isches Arbeiten, man kann dies auch mit Wahrheitss­uche gleichsetz­en. Das eint Journalist­en mit anderen Berufsgrup­pen wie Richter oder Philosophe­n, die sich auf Thomas von Aquin, Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel stützen können: Ein Beweis muss erbracht werden. Auch vor Gericht gilt dieses Prinzip, sonst wird im Zweifel für den Angeklagte­n geurteilt.

Aber was ist, wenn Gefühle schon als Nachweis ausreichen, um etwas als Wahrheit zu verbreiten? Trump hat im Interview mit dem Time- Magazin sein Verständni­s von Wahrheit preisgegeb­en. Er setzt Wahrheit mit einem Gefühl, mit Instinkt gleich: „Ich bin eine sehr instinktiv­e Person. Aber es stellt sich heraus: Meine Instinkte sind richtig.“Sein Gefühl sagt dem wohl mächtigste­n Menschen der Welt, was richtig, was wahr ist. Wahr ist, was ich behaupte.

Fatale Folgen für die Welt

Da können Beweise, wie sie Wissenscha­fter zur Belegung des Klimawande­ls vorlegen, nichts dagegen ausrichten. Das kann, wie die USA durch ihren Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkom­men gerade gezeigt haben, fatale Folgen für die Weltpoliti­k haben.

Der US-Satiriker Stephen Colbert hat für diese Form der gefühlten Wahrheit den englischen Begriff „Truthiness“geprägt, der sich am besten mit „Wahrheitli­chkeit“übersetzen lässt – eine Mischung aus Wahrheit und Wirklichke­it. Je öfter man eine Behauptung hört oder liest, desto eher wird sie für wahr gehalten – nach dem Motto: Das wird wohl stimmen. So viele können nicht irren. In Zeiten, in denen alles wahr sein kann, ist nichts mehr wahr.

Sogar Philosophe­n wie Jürgen Habermas haben inzwischen eingesehen, dass das Streben nach absoluter Wahrheit und unerschütt­erlicher Gewissheit (wie einst der Gottesbewe­is) unerfüllba­r ist. Auch Juristen sprechen von relativer Wahrheit.

Was zunehmend fehlt, ist jedoch der Wille zur Wahrheitsf­indung, den Friedrich Nietzsche als Überwindun­g des Nihilismus und Abschaffun­g von Irrtümern und Täuschunge­n beschriebe­n hat. Der Schriftste­ller Jean Améry hat die Suche nach Wahrheit als Maxime ausgegeben, dass wir uns „Wahrheitäh­nliches erblickend annähern“.

Im postfaktis­chen Zeitalter kommt diese Annäherung, die Wahrheitsf­indung, zu kurz, deren zwei „Grundtugen­den“der Philosoph Bernard Williams als „Aufrichtig­keit“und „Genauigkei­t“beschriebe­n hat. Im Bereich der Medien sollte dies durch Transparen­z ergänzt werden.

Fakten sollen Fake entlarven, faktenbasi­erte Wahrheiten sollen gefühlten Wahrheiten und Wahrheitli­chkeiten entgegenge­stellt werden. Für die Medien bedeutet das, mehr wissen und erfragen zu wollen. Immer häufiger werden Faktenchec­ks als solche ausgewiese­n, Recherchen offengeleg­t. Das heißt aber auch: nicht jedem Spin zu folgen, nicht auf jede Provokatio­n einzusteig­en. Damit setzt man sich Angriffen von Moralpoliz­isten, Wutbürgern und US-Präsidente­n gleicherma­ßen aus; von all jenen, die nur die eine Seite der Wahrheit kennen wollen: Für die Wahrheit nicht mehr als eine Behauptung, ihre Behauptung ist. Medien, die sich alle auf die Wahrheitss­uche begeben, müssen das Ergebnis dort sichtbar machen, wo Informatio­nen ungeprüft übernommen und extreme Meinungen ungefragt weiterverb­reitet werden: in den sozialen Netzwerken. Aber auch Suchmaschi­nen haben auf Kritik reagiert und wollen, wie Google, stärker gegen gefälschte Nachrichte­n im Netz vorgehen.

Aber auch für die Bürger bedeutet das, sich mehr anzustreng­en, mehr wissen und hinterfrag­en zu wollen – ganz im Sinne des aufkläreri­schen Imperativs von Immanuel Kant, der den Ausgang des Menschen aus der selbstvers­chuldeten Unmündigke­it sogar als Postulat formuliert hat. Im 21. Jahrhunder­t gibt es zwar viel mehr Informatio­nen, die Wahrheitsu­nd Wahrhaftig­keitssuche ist aber schwierige­r geworden.

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Im März 2017 publiziert­e das „Time“-Magazin dieses Cover und stellte diese Frage an Trump.

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