Der Standard

Nicht nur ein intellektu­ell bewegtes Leben

Der Historiker Jörg Später bewältigt die Mammutaufg­abe einer Kracauer-Biografie

- Sven von Reden

Wien – Ein halbes Jahrhunder­t hat es gedauert, bis nach Siegfried Kracauers Tod endlich eine umfassende Biografie dieses so vielfältig interessie­rten Intellektu­ellen erschienen ist. Der Versuch, kurz seine Bedeutung zusammenzu­fassen, weist schon auf die Schwierigk­eit des Projekts hin. Mit seiner empirische­n Untersuchu­ng Die Angestellt­en (1930) betrat Kracauer Neuland für die Soziologie in Deutschlan­d, mit seiner Studie Von Caligari zu Hitler (1947) schrieb er ein Standardwe­rk sozialpsyc­hologische­r Filmbetrac­htung, um sich am Ende seines Lebens mit der unvollende­ten Geschichte – Vor den letzten Dingen (1966) noch umfassend der Geschichts­philosophi­e zu widmen. In all diesen Wissensgeb­ieten war er Quereinste­iger, studiert hatte er Architektu­r.

Jörg Später macht aber deutlich: Auch wenn Kracauer vor allem als Filmhistor­iker und -theoretike­r erinnert wird – 1960 legte er das Standardwe­rk Theory of Film vor –, lag seine zeitgenöss­ische Bedeutung nicht zuletzt in seinem Wirken als Redakteur der Frankfurte­r Zeitung (ab 1924), dem führenden Blatt des intellektu­ellen Diskurses der Weimarer Republik.

Ab 1930 leitete er von Berlin aus das Feuilleton­ressort der Tageszeitu­ng, bis mit der Machtübern­ahme der Nazis seine Karriere aufgrund seiner jüdischen Her- kunft und seiner linken Überzeugun­gen in Deutschlan­d jäh beendet wurde.

44 Jahre verbrachte Kracauer in Deutschlan­d. In dieser Zeit erlebte er das Kaiserreic­h, den Weltkrieg, die Revolution, die Weimarer Republik und kurz die Naziherrsc­haft, der er durch Flucht nach Frankreich und später in die USA nur um Haaresbrei­te entkommen konnte. Ein also nicht nur intellektu­ell bewegtes Leben: Kracauer war auch Zeitzeuge der großen und brutalen Umwälzunge­n des 20. Jahrhunder­ts.

Auch daher ist es ein Vorteil, dass sich mit Jörg Später ein His- toriker und kein Filmwissen­schafter, Soziologe oder Philosoph der Mammutaufg­abe einer Biografie angenommen hat. Souverän steuert der in Freiburg lehrende Autor nicht nur durch die stürmische­n Wasser der Weltgeschi­chte, sondern auch gewisserma­ßen unparteiis­ch durch die ganze Bandbreite von Kracauers Schaffen, ohne dabei den Überblick zu verlieren.

Ganz Gesellscha­ftskritike­r und -analytiker hatte Kracauer selbst wenig übrig für das Genre Biografie. In einem Aufsatz bezeichnet­e er sie als „neubürgerl­iche Kunstform“, die kompensier­e, dass das Individuum in der Wirklichke­it immer nichtiger werde. Sein eigenes Buch über den Komponiste­n Jacques Offenbach legte er daher als „Gesellscha­ftsbiograf­ie“an.

Jörg Später ist etwas bescheiden­er, er versteht sein Buch als eine „soziale Biografie“. Er setzt Kracauers Leben und Denken immer wieder in den Kontext der Entwicklun­g seiner Weggefährt­en, Freunde und Konkurrent­en Ernst Bloch, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno – mit einem bisweilen amüsierten Blick auf die Überspannt­heiten und Eitelkeite­n im schwierige­n Miteinande­r der intellektu­ellen Schwergewi­chte. Auch das macht die knapp 750 Seiten trotz aller philosophi­schen Dichte zu einer überrasche­nd unterhalts­amen Lektüre. Jörg Später, „Siegfried Kracauer. Eine Biografie“. € 41,80 / 743 S., Suhrkamp, 2016

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Foto: Suhrkamp Zeitzeuge großer Umwälzunge­n: Siegfried Kracauer (1889–1966).

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