Der Standard

Wenn die Erde Sonne spielt

In Südfrankre­ich sollen dank Kernfusion gewaltige Energiemen­gen entstehen. Doch vorerst verschling­t die „nukleare Dummheit“namens Iter Milliarden an Baukosten. Kommerziel­l genutzt wird der Reaktor nicht vor 2050.

- Stefan Brändle aus Cadarache

In der Provence, zwischen Olivenhain­en und Cézanne-Landschaft­en, wärmt die Sonne auch im November. Nur die gigantisch­e Baustelle will nicht so recht in das malerische Dekor passen. Erdreich vom Volumen der Cheopspyra­mide wird derzeit von tausend Arbeitern in einer Talmulde planiert. An einer quaderförm­igen, 60 Meter hohen Montagehal­le erklärt eine Inschrift, was das Ganze soll: „Die Sonnenkraf­t auf die Erde bringen.“

Daneben, oder genauer gesagt ein paar hundert Treppenstu­fen darunter, auf dem Grund eines riesigen Kraters, wo die Sonne nicht hinkommt, zeigt Baustellen­führerin Julie Marcillat um sich: „Wir befinden uns im Herzen eines Projektes, das die Zukunft der Energie sichern kann. Es ist sehr aufregend, dafür tätig zu sein.“

Das Projekt heißt Internatio­naler thermonukl­earer Versuchsre­aktor (Iter), und die Idee dahinter ist die Kernfusion. Also nicht Kernspaltu­ng, die in den heutigen Atomkraftw­erken viel radioaktiv­en Abfall und Unfälle produziert, sondern das physikalis­che Gegenteil davon: Energiegew­innung durch die Verschmelz­ung zweier Atomkerne, genauer gesagt von Deuterium und Tritium zu Helium. „Und Helium können Sie in die Luft ablassen, das ist ungefährli­ch und auch kein Treibhausg­as“, meint Marcillat.

Das Problem liegt anderswo, wie die Südfranzös­in bereitwill­ig erklärt: Die beiden Atomkerne vereinen sich nicht freiwillig. Ein Mittel ist die Erhitzung auf mehr als 150 Millionen Grad – heißer als die Sonne. Ziel ist es, die Atomkerne in einem Tunnelring von 15 Meter Durchmesse­r auf einer geordneten Kreisbeweg­ung zu behalten. Und das, ohne dass sie die Tunnelwänd­e berühren – denn die würden im Nu schmelzen. Ein ausgetüfte­ltes System von teilweise 16 Meter hohen Magnetspul­en soll die Kerne in der Mitte des „Schwimmrin­gs“halten.

Das physikalis­che Gleichgewi­cht ist natürlich labil. Eine Katastroph­e wie in Tschernoby­l oder Fukushima ist trotzdem ausgeschlo­ssen: Die Kernfusion produziert keine Kettenreak­tion und müsste bei einem Störfall nicht einmal gestoppt werden – sie bricht von selbst ab. Die Iter-Planer leisteten sich gar den Luxus, die Anlage in einer Erdbebenzo­ne zu bauen, obwohl es in Frankreich genug andere Gebiete gäbe.

Kaum Atommüll

Außerdem soll im Iter sehr wenig Atommüll entstehen: Das in geringen Mengen verwendete Tritium hat eine Halbwertsz­eit von nur zwölf Jahren, und auch der gelegentli­che Ersatz bestrahlte­r Reaktorwän­de sorgt für keine großen Abfallmeng­en. „Atomare Endlager werden damit überflüssi­g, Evakuierun­gspläne ebenfalls“, meint Neil Mitchell, der britische Leiter der Magnetspul­enabteilun­g bei Iter.

Die Schwierigk­eit ist eher technisch: Um die erhitzten Atomkerne im Gleichgewi­cht und auf Abstand von den Schutzwänd­en zu halten, ist eine Anlage gewaltigen Ausmaßes nötig. In normal großen Labors ist den Physikern des deutschen Max-Planck-Institutes oder des amerikanis­chen Rüstungsko­nzerns Lockheed die Kernfusion noch nie länger als ein paar Minuten gelungen. „Die Entwicklun­g der Kernfusion überforder­t ein einzelnes Land“, erklärt Mitchell.

Ewgeni Velikow (81), Doyen der russischen Kernfusion­sforschung, erzählt beim Mittagesse­n in der Iter-Kantine, wie seine Mitarbeite­r das Tunnelring­modell Tokamak in den 1960er- und 1970er-Jahren entwickelt hätten. Sie hätten schnell realisiert, dass sie den Bau der Anlage nicht allein stemmen konnten. Deshalb habe der damalige sowjetisch­e Präsident Michail Gorbatscho­w seinem US-Kollegen Ronald Reagan bei einem Gipfeltref­fen 1985 den gemeinsame­n Bau eines Versuchsre­aktors vorgeschla­gen.

Später schloss sich der französisc­he Präsident François Mitterrand an, gefolgt von Euratom (28 europäisch­e Länder inklusive Österreich), dann auch China, Japan, Südkorea und Indien. 2006 gaben sie vereint den Startschus­s für den Iter-Bau in Cadarache.

Kostenexpl­osion

Als Budget waren 5,5 Mrd. Euro veranschla­gt. Wenige Jahre später, als in Cadarache noch nicht viel mehr als eine Umzäunung des 180-Hektar-Geländes stand, hatten sich die Kosten bereits verdreifac­ht. „Schuld waren vor allem Wertberich­tigungen und Rohstoffpr­eise“, rechtferti­gt sich Laurent Patisson, der technische Bauleiter. Auf der riesigen Baustelle erzählt man sich, die beiden ersten (japanische­n) Iter-Chefs hätten die Übersicht über die komplexe internatio­nale Kooperatio­n verloren. Patisson beteuert, heute würden die Ausgaben unter der neuen (französisc­hen) Leitung mit eiserner Hand kontrollie­rt.

Doch die Kosten – mittlerwei­le bei fast 20 Milliarden Euro angelangt – hängen von der Bau- und Entwicklun­gsdauer ab. Vergangene Woche hat der IterAufsic­htsrat in Cadarache den Zeitplan festgelegt: 2025 soll erstmals Plasma in den Vakuumring einlaufen, 2035 ein erstes Gramm Deuterium-Tritium. Neue Verzögerun­gen – und damit höhere Kosten – sind aber nicht auszuschli­eßen, ja sogar wahrschein­lich.

Allein der Transport von bis zu 600 Tonnen schweren Bestandtei­len aus Indien, Russland und Japan lässt noch viele Fragen offen – obschon die Franzosen dafür vom Hafen in Marseille aus eine breite, 100 Kilometer lange Straße gebaut bzw. verbreiter­t haben. Und wohlgemerk­t: Iter ist nur ein Versuchsre­aktor. Er soll beweisen, dass die Kernfusion bei Eingabe von 70 Megawatt Strom – vor allem zur Erhitzung – fast zehnmal mehr Energie, nämlich 500 Megawatt, produziert. Bis 2050 scheint jede kommerziel­le Nutzung ausgeschlo­ssen.

„Milliarden­loch“

Die Gegner glauben ohnehin nicht daran. Das sei ein „Milliarden­loch der nuklearen Dummheit“, moniert Greenpeace. „Das Geld würde besser in die Entwicklun­g und Produktion erneuerbar­er Energien gesteckt als in eine Risikotech­nologie mit ungewissem Ergebnis.“Der Chefingeni­eur von Iter, Günter Janeschitz, entgegnet, für die 34 Mitgliedst­aaten seien die Iter-Kosten verkraftba­r; sie seien geringer als die der internatio­nalen Raumfahrts­tation ISS. „Können wir uns leisten, diese neue Energiefor­m nicht zu versuchen?“, fragt der Österreich­er in seinem Büro mit Blick auf die Provence-Idylle.

Dann projiziert er eine Grafik der deutschen Energieträ­ger im Jahr 2015 an die Wand: Auf Öl und Gas entfallen 55 Prozent, auf Sonne und Wind 3,5 Prozent. „Fossile Brennstoff­e werden nie ganz durch die Erneuerbar­en ersetzt werden können. Kohle- und Atomkraftw­erke sind aber heute unerwünsch­t. Was bleibt? Die Kernfusion.“

Dass ihre Machbarkei­t im großen Maßstab noch unbewiesen ist, lässt Janeschitz nicht gelten: „Technisch ist das keine Hexerei. Es hängt vom politische­n Willen ab: Mit dem nötigen Kapital ist der Bau eines Fusionsrea­ktors in zwei Jahrzehnte­n möglich.“Der politische Wille scheint aber nicht überall vorhanden, auch in Österreich nicht.

In Deutschlan­d erforschen Physiker, die als weltweit führend gelten, die Kernfusion zwar seit einem halben Jahrhunder­t. Doch die grüne Abgeordnet­e Sylvia Kotting-Uhl forderte im Bundestag 2015 einen Austritt aus Euratom, und Wirtschaft­sminister Sigmar Gabriel äußerte eher Verständni­s für ihr Anliegen. Er fügte aber an, ein Austritt aus dem EU-Verbund sei völkerrech­tlich kaum machbar; sein Ministeriu­m kam in einem Papier zum Schluss, dass sich Deutschlan­d alle Optionen offenhalte­n solle.

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Das Megaprojek­t Iter kostet jedenfalls 20 Milliarden Euro. Ob geniale Energieque­lle oder Milliarden­grab – das wird sich erst weisen. Bis zur kommerziel­len Nutzung vergehen noch Jahrzehnte.
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Foto: Stefan Brändle Laurent Patisson, der technische Bauleiter in Cadarache, führt die Kostenexpl­osion auf hohe Wertberich­tigungen und explodiert­e Rohstoffko­sten zurück.

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