Der Standard

Jugendlich­e über Paradoxe dieser Zeit

Mobbing im Internet, Sich-fremd-Fühlen, Kinderrech­te: Über diese und andere brisante Themen sprachen die Teilnehmen­den des Jugendrede­wettbewerb­s wienXtra – und legten dabei rhetorisch­e Meisterlei­stungen hin.

- Lisa Breit

BERICHT:

Wien – „Ich gehe durch die Gassen und sehe kleine, zurückgezo­gene Familien, die große unbelebte Häuser ihr trautes Heim nennen. Und mit den Kratern und den Staubkörne­rn auf dem Mond vertraut sind und doch die Tür an Tür wohnenden Nachbarn nicht kennen“, liest Anni Liu (Akdademisc­hes Gymnasium) aus ihrem Slam-Text vor. Er handelt von hohem IQ versus emotionale Verkümmert­heit, vom Wissen um wahr und falsch und dem Unvermögen, danach zu handeln. Davon, dass Menschen immer nach mehr suchen – „das meiste, das Beste, das Schönste und das Billigste“– und damit trotzdem nicht glücklich sind.

Mit ihrem Text „Paradoxe“überzeugt Liu die fünfköpfig­e Jury – und gewinnt den Jugendrede­wett- bewerb wienXtra in der Kategorie „Neues Sprachrohr“, bei der Form und Thema der Präsentati­on nicht vorgegeben sind.

Der Wettbewerb wird jährlich von wienXtra-schulevent­s in Kooperatio­n mit der MA 13 und der Arbeiterka­mmer Wien veranstalt­et. Die Idee: Schüler und Schülerinn­en sollen sich mit Themen zu Wort melden, die ihnen am Herzen liegen. Insgesamt 16 Teilnehmen­de treten an diesem Montagnach­mittag im Wiener Rathaus gegeneinan­der an. Sie haben sich in Voraussche­idungen für das Landesfina­le qualifizie­rt – nun sollen sie parallel im Wappensaal und im Gemeindera­tssitzungs­saal überzeugen. Moderator Eric Berdaguer, der im vergangene­n Jahr zu den Landessieg­ern gehörte, hat einen Rat für die Kandidaten parat: „Habt einfach Spaß, alles andere wird sich dann von selbst ergeben.“

„Müssen zusammenha­lten“

Die Reden der Jugendlich­en sind direkt, ehrlich und berühren. Nicht nur die Jury, sondern auch die Zuhörersch­aft, großteils Freunde der Teilnehmen­den.

Die 15-jährige Nadine Kasses (Polytechni­sche Schule Floridsdor­f) spricht über Mobbing, von dem sie bereits selbst betroffen war, sowohl in der Schule als auch im Internet. Sie appelliert an ihr Publikum: „Versetzt euch doch einmal in die Lage der Opfer.“Kasses’ Offenheit honoriert die Jury mit dem ersten Platz in der Kategorie „Klassische Rede: Polytechni­sche Schulen“.

Volkan Babus (Polytechni­sche Schule Währing) berichtet vom „Fremdsein im eigenen Land“: „Was mich am meisten nervt, sind Sager wie: Für einen Türken sprichst du echt gut Deutsch!“Beschimpfu­ngen auf der Straße würden ihn ebenso hart treffen wie Berichte in manchen Zeitungen. „Wahrschein­lich haben die meisten Menschen Angst vor Fremden, das müssen sie aber nicht.“Zurückhalt­ung in der Integratio­nsdebatte, findet Babus, ist nicht mehr angebracht. „Österreich verändert sich, und wir müssen zusammenha­lten.“

Der Slammer Ahmed Zeyd Aytac (Akademisch­es Gymnasium) legt mit „Nebel“eine dichterisc­he Meisterlei­stung hin, die bekannten Poetry-Artisten wie Julia Engelmann um nichts nachsteht. „Ich suchte die schönste Perle im Glanz, die schönste Kerze im Kranz, nach dem perfekten Rhythmus im Tanz, nach dem besten Ergebnis in der Bilanz, der schönsten Blume im Jetzt und Hier. Hab sie gefunden inmitten von dir und realisiert­e: Es ist für die Ewigkeit.“

Sinem Ertürk (Phönix Realgymnas­ium) bedient sich für die Präsentati­on ihres Textes gar einer Gitarre – und wird dafür von der Jury im Gemeindera­tssitzungs­saal zur Tagessiege­rin gekürt.

Das Publikum klatscht, johlt, feuert an. Ginge es nach der Lautstärke des Applauses, gäbe es an diesem Tag nur Sieger. „Es können aber leider nicht alle weiterkomm­en“, bedauert Moderator Berdaguer.

Zum Finale nach Graz

„Ich gehe durch die Straßen und sehe nur Menschen, keine Menschlich­keit“, so beendet Anni Liu ihre Rede. „Solange es nur ein Ich gibt und kein Wir, nur ein In-der-Zukunft und kein Jetzt und Hier – so lange wird das Paradoxe niemals verschwund­en sein.“Ende Mai wird Liu den Text abermals, in Graz beim Bundesrede­wettbewerb, vortragen.

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Zoé Herscovici (Lycée Français) sprach über Jugendarbe­itslosigke­it. Sie wurde dafür vom Publikum mit dem Tagespreis bedacht.

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