Ein neuer Prügelknabe namens Freihandel
In den USA punktet Donald Trump mit Angriffen auf Billigimporte aus China. In Europa wächst die Ablehnung gegen TTIP. In Vergessenheit gerät, dass Freihandel auch Chancen bietet.
ANALYSE: Wien – Wenn man sich den Freihandel als einen Boxer vorstellt, wäre er in der vergangenen Woche zweimal windelweich geprügelt worden. Der linke Haken kam aus Europa, der rechte aus den USA.
In den Vereinigten Staaten hat sich Donald Trump die Nominierung als republikanischer Präsidentschaftskandidat gesichert. Trump hatte im Wahlkampf Handelsliberalisierungen scharf attackiert. So versprach er im Falle seines Einzugs ins Weiße Haus, chinesische Importwaren mit einem Schutzzoll in Höhe von 45 Prozent zu belegen. Bei Automobilteilen aus Mexiko schlug er 35 Prozent vor.
In Europa sorgte die Veröffentlichung geheimer TTIP-Dokumente für Aufregung. Wie stark die Ablehnung gegen TTIP ist, zeigte sich daran, dass selbst unscheinbare Textstellen zum Skandal hochstilisiert wurden. So finden sich in den Papieren von Greenpeace Passagen, wonach die EU und die USA vereinbaren, Produktzulassungen nur auf Basis wissenschaftlicher Belege zu beurteilen. Man ist versucht zu sagen: auf welcher Basis denn sonst?
Der Angriff auf Handelsliberalisierungen kommt aus unterschiedlichen Richtungen: Trump attackiert die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland. Greenpeace, aber auch die Grünen und Teile der Sozialdemokratie in Europa fürchten dagegen um den Konsumenten- und Umweltschutz.
Clinton gegen das Pazifikabkommen
Doch es scheint, als mache sich tiefe Skepsis in der Bevölkerung breit. So wird in Europa nicht nur TTIP, sondern auch das geplante Freihandelsabkommen der EU mit Kanada kritisch gesehen. In den USA macht nicht nur Trump Stimmung. Hillary Clinton ist gegen das geplante pazifische Handelsabkommen TPP. Sie war unter Druck geraten, nachdem ihr Mitbewerber Bernie Sanders mit seiner Antiliberalisierungsrhetorik punkten konnte.
Dabei sind sich Ökonomen weitgehend einig: Freihandel vermehrt in der Regel den Wohlstand der Nationen. Die Grundlagen dafür gehen auf Ökonomen wie Adam Smith (1723–1790) und David Ricardo (1772–1823) zurück.
„Ein Familienvater, der weitsichtig handelt, folgt dem Grundsatz, niemals etwas herzustellen zu versuchen, was er sonst wo billiger kaufen kann“, formulierte Smith. Wenn Land A also Wein kostengünstiger herstellen kann und Land B billiger Tücher produziert, ist es für beide gewinnbringend, mit Wein und Tüchern zu handeln. Ricardo zeigte, dass Handel sogar vorteilhaft ist, wenn Land A imstande ist beides, also Tücher und Wein, billiger zu produzieren. Denn die richtige Arbeitsteilung ermöglicht beiden Seiten, sich voll zu spezialisieren.
TTIP wird nicht als Chance gesehen
Doch weder in den USA noch in Europa finden mögliche Vorteile des Handels in den öffentlichen Debatten Erwähnung. Die EU-Kommission und die US-Regierung glauben, durch TTIP bestimmte Industriezweige (Automobil, Chemie) stärken zu können. Sicher ist das nicht, aber möglich. Doch die Kritik bezieht sich fast nur auf Genmais und Hormonrinder.
Dabei ist die EU der schlagendste Beweis dafür, dass Freihandel funktioniert. Kaum irgendwo auf der Welt hat sich der Wohlstand seit 1945 so stark vermehrt wie in Europa. Die Entwicklung fand parallel statt: Handelshemmnisse und Zölle wurden abgebaut, während der Reichtum zunahm.
Während in Europa die Angst vor einem Abkommen umgeht, dessen Inhalt noch nicht einmal fixiert ist, gibt es in den USA den Versuch, die Debatte zu versachlichen.
Im Jänner hat der Ökonom David Autor ein vielbeachtetes Papier herausgebracht. In diesem zeigt er, wie einige US-Regionen aufgrund der Marktöffnung gegenüber China leiden. Autor und zwei Kollegen untersuchten, wie sich die gestiegenen Importe chinesischer Waren (Spielzeug, Textilien) auf den Jobmarkt auswirken. Die Theorie besagt, dass steigende Importe Jobs vernichten, die Leute aber anderswo Arbeit finden.
Genau das ist nicht geschehen, argumentiert Autor, der am Massachusetts Institute of Technology (MIT) forscht. Die Zahl der Beschäftigten in der US-Industrie ist seit den 1990er-Jahren um mehr als ein Drittel zurückgegangen. 44 Prozent dieses Rückgangs sind für Autor durch Billigimporte aus China erklärbar. Das entspricht dem Verlust von 2,4 Millionen Jobs. In Regionen, wo die Industrie besonders der Kon- kurrenz aus China ausgesetzt ist, stieg die Arbeitslosigkeit eher an.
In einem im April veröffentlichten Papier geht Autor einen Schritt weiter: Er zeigt, dass in Regionen, die besonders unter dem Handel mit China leiden, bei Wahlen häufig extremistische Kandidaten, etwa rechte Republikaner, gewinnen. Autors Papier erklärt also, dass es in den USA einen realen Hintergrund gibt, weshalb Trump mit seinen Attacken punktet.
Wobei Autors Studie nicht als Argument gegen Freihandel taugt. So ist der beschriebene China-Schock aus heutiger Sicht ein Sonderfall. Der Anteil Chinas am Welthandel ist in den vergangenen Jahren explodiert. Das liegt an der unglaublich hohen Zahl an verfügbaren Arbeitskräften und zugleich am hohen Rückstand der chinesischen Industrie, der langsam aufgeholt wird. Ein neues China steht nicht vor der Tür, so Autor.
Hinzu kommt, dass der größte Jobkiller in der Industrie nicht der Handel, sondern die Technologisierung ist. „Selbst wenn Trump Autoimporte aus Mexiko massiv besteuert, bringt er keine Jobs zurück. In den USA würde diese Arbeit von Maschinen gemacht werden“, sagt der in Wien lebende und auf internationale Wirtschaftsfragen spezialisierte Ökonom Wladimir Gligorow.
Waren aus China sind billig, Konsumenten sparen sich also Geld, das sie anderswo ausgeben können. Diesen Faktor lässt Autor unbeachtet. Schließlich: Der Ökonom betrachtet nur eine Seite der Medaille. Die Zahl der Armen in China ist laut Uno zwischen 1990 und 2010 um eine halbe Milliarde Menschen gesunken. Wer dazu viel beigetragen hat? Chinas Exportindustrie.