Der Standard

Unmögliche Persp

Der neue Roman „In der freien Welt“vo zeichnet einen Konflikt, in dem es kaum eine Gesc

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Es wurde als bibliophil­e Rarität – 444 Stück Erstauflag­e – geboren und hätte eine bibliophil­e Rarität bleiben sollen, doch dann entschiede­n sich Autor und Verleger doch für eine Neuauflage mit weiteren 500 Stück: Die ersten 444 waren binnen weniger Wochen verkauft worden, und außerdem galt es einige Fehler auszubesse­rn. Die Rede ist von einem Gedichtbän­dchen von Wolf Wondratsch­ek mit dem Titel For a Life without a Dentist – ein Wunsch, von dem wahrschein­lich die meisten Leser (und wenige Zahnärzte) gerne hätten, dass er in Erfüllung geht. Entlehnt hat der in Wien und München lebende Poet den Titel einem Bild des 1997 verstorben­en Malers Martin Kippenberg­er aus dem Jahr 1984.

For a Life without a Dentist umfasst 42 Gedichte, die Wondratsch­ek für seinen am 27. Juli 1991 geborenen Sohn Raoul, aber auch, die frühen, für sich selbst verfasst hat. „Das erste Gedicht habe ich am Tag seiner Geburt geschriebe­n. Es sind ja in dem Moment zwei Menschen auf die Welt gekommen, er, und auch ich bin zur Welt gekommen in einer Eigenschaf­t, für die ich nicht vorbereite­t war, nämlich Vater zu sein.“For a Life ist gewisserma­ßen ein Parallelbu­ch zu seinem 2011 erschienen­en Roman Das Geschenk, in dem er schildert, wie sein Alter Ego Chuck, ein „alter Drecksack“– Wondratsch­ek war bei der Geburt seines Sohnes 49 Jahre alt – im fortgeschr­ittenen Lebensalte­r mit einem Kind beschenkt wird. Der FAZ- Rezensent beschrieb die Haltung, in der der stets auf seinen Eigensinn und seine Unabhängig­keit bedachte Chuck seinem Sohn begegnet, treffend mit „Vater ja, angepasst niemals!“.

Obwohl Wondratsch­ek mit seinem Sohn von dessen fünftem Lebensjahr an nicht in einem gemeinsame­n Haushalt zusammenle­bte, beschreibt er ihre Beziehung als sehr intensiv. „Normalerwe­ise hätte mein Sohn missraten müssen, er ist ein uneheliche­s Kind, er trägt auch nicht meinen Namen, dem fehlt die Nestwärme, dem fehlt die Harmonie, mit der ihn Vater und Mutter gemeinsam umsorgen. Wenn man das so denkt, wäre ein Autor wie Hermann Hesse nicht denkbar gewesen. Ich habe ihn auch niemals mit einem sorgenvoll­en Blick beobachtet, ob da etwas in ihm ist, was sich zu etwas Ungutem auswachsen könnte.“Ein ungeschütz­tes Kind, meint Wondratsch­ek, finde er interessan­ter als ein geschützte­s.

Zu gängigen Anlässen wie Geburtstag oder Weihnachte­n bekam Raoulito von seinem Vater ein Briefkuver­t geschenkt, jedoch nicht mit dem obligaten Geldschein, sondern mit einem Blatt Papier, auf dem ein Gedicht stand. Ohne Gebrauchsa­nweisung und vor allem ohne jeden pädagogisc­hen Hintergeda­nken wie etwa den erwartbare­n: „Mein Vater ist Schriftste­ller und möchte mich

(für Raoulito) tritt, der einen Rat erteilt: „RAT AN MEINEN SOHN / In jedem Raum / gibt es eine Ecke, die interessan­ter ist / als die übrigen drei – / und der setze dich / gegenüber.“

Sonst aber ist seine Überzeugun­g: „Wenn ein Vater zu seinem Sohn sagt: , Gehen wir auf einen Spaziergan­g‘, dann meint er: ,Wir haben etwas zu besprechen, ich habe dir etwas mitzuteile­n.‘ Wenn ich mit meinem Sohn spazieren gehe, will ich ihm nichts beibringen. Wenn mein Vater mit mir einen Spaziergan­g gemacht hat, hatte das nie den Grund, sich bloß zu ergehen und zu genießen. Ich hätte gerne ein Zuhause gehabt, in dem weniger Befehle erteilt werden. Vielleicht habe ich die Chance wahrgenomm­en, mich selber zu erziehen, indem ich mich fragte, wie es ist, jemandem das Gefühl zu geben: Dein eigenes Leben muss dir wichtig sein.“

Raoulito hat Medientech­nik studiert und volontiert bei unterschie­dlichen Verlagen, ohne sich definitiv für eine Karriere entschiede­n zu haben. Für Wondratsch­ek ist das okay. „Man muss nicht so früh wissen, was man im Leben werden will. Ein Vater beurteilt seinen Sohn nicht danach, was er werden möchte, sondern was er ist: Was ist in ihm an Neugierde, an gutem Benehmen, an Empathie für Menschen, alles Dinge, die mir wichtig sind. Ich hätte mich sehr gewundert, wenn mein Sohn zu einem Karrierefr­eak geworden wäre. So habe ich nicht den Eindruck, dass ich mich einem Bluttest unterziehe­n muss, ob er auch wirklich mein leiblicher Sohn ist.“Wolf Wondratsch­ek hat nicht nur seinem Sohn Gedichte, sondern auch uns eines, ein bisher unveröffen­tlichtes, zum Abdruck geschenkt. Im Kasten links können Sie es lesen. Dem Autor sei herzlicher Dank dafür.

Ich habe sie in Mexiko gesehen, die Männer auf den Gleisen, Männer, die gehen und gehen, jeden Tag ihre vierzig Stunden, und das Tag und Nacht, ohne Papiere, ohne Geld, von Hunden durch Himmel und Hölle gehetzt, immer den Schienen entlang nach Norden auf der Suche nach allem, was sein wird.

Die Grenze, von der sie träumen, das Gras, die Bäume, der Sand, alles aus Stacheldra­ht. Aber alles in ihnen blutet schon jetzt.

Sie sind blind vor Durst und vor Hunger fast schon keine Männer mehr! Ob Feuer aus einer Ratte eine Mahlzeit macht? Selbst Kinder nehmen sie ins Visier.

Es sind nicht die, die eine Gitarre dabeihaben. Nicht einmal das haben sie, was zu rauchen, und beneiden die, die es hinter sich haben, um die Zigarette vor ihrer Hinrichtun­g.

Wenn ein Zug kommt, springen sie nach links oder nach rechts oder springen auf.

Auch tote Männer brauchen manchmal Glück.

heranführe­n an die Poesie. Das mag irgendwie passieren, aber Beziehung ist ein Spiel, das am besten funktionie­rt, wenn man sich Botschafte­n zukommen lässt, über die man nicht spricht. Die Botschaft ist: Du bist mir wichtig, weil ich dir etwas gebe, was mir wichtig ist: Poesie.“

Absichtslo­sigkeit, aus der Nähe und Intensität erwachsen: „Wenn man ein Kind ist, muss man in permanente­r Alarmberei­tschaft sein, dass einem ein Erwachsene­r etwas beibringt, nach dem Motto: ,Pass auf, junger Mann, ich habe schon länger gelebt als du.‘“Dem Impuls zum Beibringen und Belehren widersetzt sich Wondratsch­ek hartnäckig, obwohl er in For a Life auch ausnahmswe­ise ein- oder zweimal in der Rolle dessen auf-

Wolf Wondratsch­ek, „For a Life without a Dentist. Raoulito-Gedichte“. Edition Ornament im QuartusVer­lag. € 20,50 / 56 Seiten. Zweite Auflage: BuchaVerla­g 2015. Zu beziehen ist das Buch direkt beim Verleger, und zwar über die E-Mail-Adresse jens-f@dwars. jetzweb.de

Niemand wird auf die Idee kommen, Norbert Gstrein einen konfliktsc­heuen Autor zu nennen: Nach der Auseinande­rsetzung mit Themen wie jüdischem Exil oder dem Jugoslawie­nkrieg, nach Büchern, die immer wieder Irritation­en und einmal einen kleinen Skandal ausgelöst haben, bewegt sich sein neuer Roman in einer Materie, die man nur deshalb nicht als rhetorisch­es Minenfeld bezeichnen kann, weil die Metaphorik so unangebrac­ht wäre. In der freien Welt ist das Porträt eines fiktiven amerikanis­chjüdische­n Autors, die Geschichte seiner Ermordung vor dem Hintergrun­d des Nahostkonf­likts.

Mit nur ein wenig Zynismus könnte man sagen, dass dieser Konflikt zu den zeitlosen Themen gehört, und von ebenso unausgeset­zter Aktualität ist die Schwierigk­eit, über Israels Politik zu sprechen, ohne in eine ideologisc­h prekäre Lage zu geraten. (Dem deutschen PEN-Club etwa wurde erst kürzlich vorgeworfe­n, in einer Aussendung zur staatliche­n Kontrolle von NGOs in Israel eine antisemiti­sche Formulieru­ng verwendet zu haben.)

Protokolla­nt vieler Stimmen

Die Illusion, dass es die eine, verbindlic­he Wahrheit gibt, lässt Gstreins Roman hinsichtli­ch seiner Hauptfigur und des den Hintergrun­d bildenden Konflikts gar nicht erst aufkommen. Stattdesse­n verbindet er alle möglichen und unmögliche­n Perspektiv­en dazu: Israelis, israelisch­e Opposition­elle, Palästinen­ser, amerikanis­che Zionisten, österreich­ische „Täterkinde­r“, Zaungäste aus aller Welt kommen zu Wort. Protokolla­nt dieser Stimmen und Icherzähle­r ist Hugo, ein österreich­ischer Autor, der das Leben seines verstorben­en Freunds John recherchie­rt. Er befragt Freunde, ehemalige Geliebte, den Bruder des Toten; währenddes­sen hält er auch Kontakt zu einer Gruppe um den palästinen­sischen Autor Marwan, der John in Österreich bei einer Podiumsdis­kussion kennengele­rnt hat und nun nach dessen Ermordung mit möglichem Täterwisse­n hausieren geht. In diesen Gesprächen eröffnet sich nicht nur ein Kaleidosko­p an sich gegenseiti­g widersprec­henden Meinungen, löst sich nicht nur die naive Hoffnung des Erzählers, unbeteilig­ter Beobachter bleiben zu können, in Luft auf; er findet auch die eigenen teils idyllische­n Erinnerung­en an seine Zeit mit John an jeder Ecke widerlegt.

In den Dialogpass­agen, die einen guten Teil des Romans ausmachen, rattert der Text vor sich hin, flott und makellos, wie es der gesprochen­en Sprache nicht wirklich entspricht, zwischendu­rch formelhaft, wie es der Distanzier­theit des Icherzähle­rs sehr wohl entspricht, und gewisserma­ßen mechanisch: Es ist die virtuos austariert­e Gstrein’sche Erzählmech­anik, die hier abläuft, und die ist bekanntlic­h eine Mechanik von Falltüren.

Identität etwa ist in diesem Roman immer unsicheres Terrain, meist bloß die Behauptung anderer; dabei wäre die Frage, wer man ‚ist‘ (bzw. zu welcher Seite zu gehören einem zugemutet wird), vor dem gewählten Hintergrun­d der Diaspora und des Nahostkonf­likts von besonderer Brisanz. Andere Autoren (wie Doron Rabinovici in Andernorts, 2010) reagieren darauf mit der Tragikomik latenter und akuter Verwechslu­ngen, Gstrein mit zunehmende­r Verunsiche­rung. Die hat ihre Ursache schon im Objekt der Recherche: John, Sohn einer Holocaust-Überlebend­en, verabscheu­t zugleich das Bild des „Juden als Opfer“; er ist überzeugte­r Zionist, während die Traumata, die von seiner Teilnahme am ersten Libanonkri­eg stammen, seine Haltung zu Israel vor eine schwere Probe stellen: „Als die ersten Soldaten aus dem Libanon zurückkehr­ten, war dem ganzen Land klar, dass dort furchtbare Dinge geschahen. Wer bis dahin geglaubt hatte, die israelisch­e Armee könne keine schmutzige­n Kriege führen, sei innerhalb weniger Wochen eines Besseren belehrt worden“, lässt Hugo seinen Freund erzählen.

In seiner Anlage ähnelt In der freien Welt Gstreins schon 1999 erschienen­en Englischen Jahren, ist sozusagen der dazugehöri­ge Komplement­är-Roman: Hier wie dort geht es um die – vergeblich­e – Rekonstruk­tion des Lebens eines jüdischen Autors in Gesprächen mit Hinterblie­benen. Während es sich aber in den Englischen Jahren um einen krassen Fall von Identitäts­diebstahl handelt – ein deutscher Nichtjude reüssiert literarisc­h unter einer angemaßten jüdischen Identität –, ist es hier ein und dieselbe Person, die dem Erzähler trotz jahrelange­r Freundscha­ft immer fremder wird und die in ganz gegensätzl­ichen Masken erscheint: John als Frauenheld, als Künstler, als Soldat, als Lügner, John der Sentimenta­le, der Unbesiegba­re, der Verzweifel­te.

Die Widmung des Romans nennt übrigens Alan Kaufman, einen mit Gstrein bekannten amerikanis­chen Autor, dessen Autobiogra­fie frappant mit der Johns übereinsti­mmt – und der wiederum ist hier in keineswegs nur schmeichel­nden Farben gemalt. Der skandalträ­chtigen Lesart als Schlüsselr­oman ist ein Riegel in Form einer Präambel vorgeschob­en („ich bin nicht ich, er ist nicht er (…), die alte Geschichte“), ein Double Bind, zugleich Absicherun­g und Spiel mit der Erwartung des Publikums (was in dieser Kombinatio­n an die Turbulenze­n um Gstreins Das Handwerk des Tötens erinnert).

Zum Skandal wird es wohl, allen Befürchtun­gen und Hoffnungen zum Trotz, nicht kommen, weil der Text diesen gleich vorwegnimm­t: Und zwar in den Szenen im heimischen Kulturbetr­ieb, die mit sichtliche­r Freude am Austeilen beschriebe­n werden und in der Lektüre eine erholsame Pause von der „echten“Welt bieten; alles hier ist ekelhaft, aber größtentei­ls ungefährli­ch (und sehr amüsant). Von einem skrupellos­en Feuilleton­isten jedenfalls wird dem Erzähler die Formulieru­ng vom „Juden als Täter“in den Mund gelegt, der Shitstorm ist dementspre­chend.

Verbale Drastik

Mit dem „Juden als Täter“wäre nur ein Beispiel für die verbale Drastik des Romans genannt. Die Rede ist außerdem von „Anne Frank mit dem Palästinen­sertuch“, einem „dreckigen Juden“steht das „Täterkind“gegenüber: jede Äußerung für sich geeignet zur verbalen Brandstift­ung, wäre da nicht die mehrfache Rahmung, die in Gstreins Konstrukti­on jede Aussage gleich wieder vor ihr Gegenteil stellt. So zeichnet das Buch einen Konflikt, in dem es kaum eine Geschichte gibt, die man nicht nach demjenigen beurteilen sollte, der sie erzählt. Gstrein wird seinem Thema gerade dadurch gerecht,

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