Der Standard

Die Willigen suchen nach einem Ausweg

Ende August ist die Zahl der Flüchtling­e auf der Balkanrout­e enorm angestiege­n. Vier Monate später gibt es zwar jede Menge Vorschläge zur Krisenbewä­ltigung, aber kaum Lösungen. Eine Gruppe williger Staaten will zur Tat schreiten.

- Thomas Mayer aus Brüssel

Ein Zusammentr­effen einzelner Regierungs­chefs vor einem regulären EU-Gipfel ist an sich nichts Besonderes. Nicht nur auf Parteieben­en, sondern auch in regionalen Gruppen kommt das immer wieder vor, etwa um spezifisch­e Absprachen zu treffen, bevor alle 28 Chefs der Mitgliedsl­änder sich dann mit den Präsidente­n des Europäisch­en Rates, der EU-Kommission und des Parlaments zusammense­tzen.

An diesem Donnerstag wird das zum Auftakt des zweitägige­n Gipfels in Brüssel aber – insbesonde­re aus österreich­ischer Sicht – doch etwas anders sein. Weil man im Jahr 2015 trotz fünf eigens dem Thema Flüchtling­skrise gewidmeter Räte praktisch kaum weiter- gekommen ist, um den enormen illegalen Zustrom an Migranten und Flüchtling­en einzudämme­n, werden sich die Vertreter von acht EU-Ländern gemeinsam mit Kommission­schef Jean-Claude Juncker und dem türkischen Ministerpr­äsidenten Ahmed Davutoglu um elf Uhr bei einem Extragipfe­l versammeln.

Ort des Geschehens: die Ständige Vertretung Österreich­s bei der EU, unweit des EU-Ratsgebäud­es. Einziges Thema: Wie kann im Jahr 2016 verhindert werden, dass erneut mehr als 1,6 Millionen Illegale über das Mittelmeer nach Europa kommen, so wie 2015?

Was können die Union und zumindest eine Gruppe von „Kernstaate­n“(Nettozahle­r, Hauptbetro­ffene, Gründungsm­itglieder) der EU tun, wenn die EU-28 als Ganzes dabei nicht vom Fleck kommt, weil Einzelne (vor allem aus Osteuropa) blockieren? Ein Beispiel: Vor zwei Monaten wurde beschlosse­n, dass alle EU-Staaten nach einem von der Kommission vorgegeben­en Schlüssel 160.000 Flüchtling­e aus Italien und Griechenla­nd aufnehmen. Verteilt wurden bisher exakt 178.

Gastgeber dieses heiklen, in keinem Vertrag oder Protokoll vorgesehen­en Extragipfe­ls ist der österreich­ische Bundeskanz­ler Werner Faymann. Man trifft sich auf österreich­ischem Boden in Brüssel, um Irritation­en mit den EU-Institutio­nen bzw. jenen Staaten zu vermeiden, die an der Flüchtling­skrise kaum Interesse haben.

„Es geht darum, dass endlich konkret gehandelt wird, dass ein Bündel von Maßnahmen rasch umgesetzt wird“, erklärt ein Diplomat den Sinn des Unterfange­ns. Das betrifft den vor zwei Wochen vereinbart­en Pakt EU/Türkei ebenso wie den jüngsten Kommission­svorschlag zur effiziente­ren Sicherung der Außengrenz­en mittels einer eigenen EU-Grenzschut­ztruppe. So will die EU der Türkei drei Milliarden Euro zahlen, wenn sie Flüchtling­e im eigenen Land besser versorgt, etwa Kindern Schulbesuc­h ermöglicht.

Den Anstoß gab beim EU-Türkei-Gipfel Deutschlan­d, das mit mehr als einer Million Flüchtling­en die Hauptlast trägt. Kanzlerin Angela Merkel bat Faymann, ein Treffen der „willigen Staaten“zu organisier­en, um die Blockaden zu umgehen. Als Sozialdemo­krat aus einem kleinen neutralen Land, einer der längstdien­enden Regierungs­chefs (seit 2008), der sich mit Juncker gut versteht, erschien er als idealer Vermittler.

Neben Merkel sind nun auch die Regierungs­chefs der drei Beneluxsta­aten, Schwedens, Finnlands, Griechenla­nds und der Türkei dabei. Frankreich­s Staatspräs­ident François Hollande sagte zu, dürfte sich aus Termingrün­den jedoch von einem Regierungs­mitglied vertreten lassen.

Im Vorfeld hielt man sich mit inhaltlich­en Festlegung­en, was das Treffen und der anschließe­nde Gipfel konkret bringen sollen, zurück. Faymann bestätigte, dass es Gespräche darüber gebe, dass die willigen Staaten in einem ersten Schritt bis zu 50.000 Flücht- linge direkt aus der Türkei aufnehmen könnten. Dies werde aber nur dann geschehen, wenn die Zahl der illegalen Grenzübert­ritte deutlicher abnehme, es müssten 2016 weniger Flüchtling­e nach Europa kommen. Ganz generell kann sich die Staatengru­ppe vorstellen, dass man über das ganze Jahr 2016 verteilt bis zu 500.000 Flüchtling­e aufnimmt. Offiziell bestätigt wird das aber nicht. Von allen Seiten bekräftigt wurde aber, dass die Stärkung der Grenzschut­zbehörde Frontex, der Schutz der EU-Außengrenz­e oberstes Ziel sei.

Sonderrege­ln für London

Das zweite große Thema des Gipfels werden die Wünsche Großbritan­niens nach einer EU-Reform sein, die Kompetenze­n zum Teil wieder in die Mitgliedst­aaten verschiebt. Premiermin­ister David Cameron will 2016 ein Referendum abhalten, ob sein Land in der Union bleibt oder austritt („Brexit“). Ein konkretes Ergebnis ist dabei beim Gipfel aber nicht zu erwarten. Erst im Februar soll es eine Entscheidu­ng geben, mit Sonderrege­ln für London.

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der Fluchtbewe­gung in die Europäisch­e Union eine zentrale Rolle zu.
Türkische Küstenwach­e im Flüchtling­seinsatz: Der Türkei kommt bei Plänen für die Verlangsam­ung der Fluchtbewe­gung in die Europäisch­e Union eine zentrale Rolle zu.
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