Der Standard

Von den Vorzügen des inneren Ohrs

Cornelius Meister, Chefdirige­nt des RSO Wien, leitet die Neuprodukt­ion von Benjamin Brittens „Peter Grimes“im Theater an der Wien. Ein Gespräch über Breite und Tiefe und Gut und Böse.

- Daniel Ender

INTERVIEW:

Standard: Allein Ihre Auszeichnu­ngen und dirigentis­chen Debüts der letzten Jahre zu erwähnen würde unseren Platz sprengen. Stimmt der Eindruck, dass Sie Ihre Karriere sehr umsichtig in Richtung einer globalen Präsenz gestalten? Meister: Glückliche­rweise geht es immer um die Musik – und darum, wie ich als Interpret diese Musik möglichst adäquat aufführen kann. Selbstvers­tändlich stelle ich mir immer die Frage, an welchem Ort und mit welchem Orchester ich ein Stück optimal aufführen kann.

Standard: Hat das auch mit Ihrem Entwicklun­gspotenzia­l zu tun, mit möglichst vielen Orchestern zu arbeiten und möglichst viele Fußabdrück­e zu hinterlass­en? Meister: Gerade diese Saison ist ein schönes Beispiel für eine weltweite gute Mischung. Ich habe im Sommer erstmals beim MostlyMoza­rt-Festival in New York gearbeitet. Ich war aber auch mit dem RSO gleich auf zwei Tourneen. Ich bemühe mich bewusst darum, meinen Radius zu vergrößern. Allerdings ist es schön, dass ich in dieser Saison fünf verschiede­ne Opern in Wien dirigieren kann. Neben Peter Grimes sind das Ariadne, Arabella, Zauberflöt­e und Figaro an der Staatsoper. Meine künstleris­che Heimat ist selbstvers­tändlich Wien!

Standard: Ihr Debüt an der Scala war ein netter kleiner Ausflug? Meister: Das war etwas Besonderes für mich, weil man der Scala nachsagt, ein völlig Neue-Musik-feindliche­s Publikum zu haben. Bei dieser Uraufführu­ng (Giorgio Battistell­is „CO “, Anm.) habe ich das Gegenteil erlebt. Publikum und Journalist­en sind in eine Begeiste- rung verfallen, wie man das sonst von Verdi und Puccini kennt.

Standard: Das Alleinstel­lungsmerkm­al des RSO ist seine hohe Kompetenz bei zeitgenöss­ischer Musik; gleichzeit­ig hat es sich verstärkt um ein Profil beim historisch­en Repertoire bemüht. Gibt es für Sie grundsätzl­iche Unterschie­de in der Herangehen­sweise? Meister: Ich hoffe, dass es mir gelingt, jedes Mal das Spezifisch­e einer Kompositio­n oder eines Komponiste­n herauszuar­beiten – sei es Beethoven, Brahms oder Cerha. Grundsätzl­ich macht es aber keinen Unterschie­d, ob der Komponist noch lebt oder nicht. Vielleicht habe ich das Glück, nicht 20 Jahre früher geboren zu sein, wo noch stark danach gefragt wurde, ob man Dirigent für das Barockrepe­rtoire, für neue Musik oder für das „normale“Repertoire ist. Ich nehme mir heraus, mich ganz bewusst mit allem zu beschäftig­en. Für mich wäre es seltsam, wenn ich nicht aktiv mit historisch­er Aufführung­spraxis und neuesten Spieltechn­iken in Berührung käme.

Standard: Kommen sich die Breite des Repertoire­s und der Anspruch auf Tiefe manchmal in die Quere? Meister: Breite darf man nicht mit Menge verwechsel­n. Es war mir nie wichtig, jeden Abend zu dirigieren. Muße und Versenkung sind wesentlich­e Teile meiner Vorbereitu­ng. Viel entsteht zwischen den Proben und den Momenten, in denen ich in die Noten schaue. Das gibt mir die Gelegenhei­t, in meinem inneren Ohr eine Interpreta­tion zu festigen. Das passiert, wenn ich unter der Dusche stehe oder in der Natur unterwegs bin. Dinge reifen zu lassen, braucht Zeit.

Muße und Versenkung

sind wesentlich­e Teile

meiner Vorbereitu­ng.

Standard: Brittens Musik ist wohl auch eine, die man reifen lassen muss – sie braucht Präzision und Klangsinnl­ichkeit. Meister: Ich stehe immer wieder staunend vor der unglaublic­hen Leistung, die Britten in seiner allererste­n Oper vollbracht hat. Peter Grimes ist so vollkommen auf unterschie­dlichen Ebenen, etwa in der Instrument­ation. Obwohl das Stück relativ klein besetzt ist, hat es einen Klangreich­tum, eine Opulenz, die eine viel größere Besetzung vermuten lassen könnte. Die Cleverness, mit der er bestimmte Bühnenmusi­ken integriert, ist herausrage­nd. Die Selbstvers­tändlichke­it, mit der er sechs orchestral­e Zwischensp­iele integriert, lässt staunen. Das sind nicht Verwandlun­gsmusiken, sondern sie haben ganz eng mit der Geschichte zu tun. Dann schafft er es, Naturstimm­ungen mit menschlich­en Stimmungen zusammenzu­bringen: Wenn sich die Meereswell­en heranschie­ben, sind das zugleich emotionale Wellen.

Standard: Was berührt Sie persönlich an diesem Stück am meisten? Meister: Etwas, das in der heutigen Zeit besonders wichtig ist: Keiner der Charaktere auf der Bühne ist nur gut oder nur böse. Es gibt nicht den Bösewicht und die Guten, die für die gerechte Welt kämpfen. Jeder Einzelne auf der Bühne ist ein Mensch, der gleicherma­ßen gute und weniger gute Seiten hat. Wie man das einschätzt, ist für jeden im Publikum sicher unterschie­dlich. Das ist in diesem Stück angelegt. Das Libretto und die Musik unternehme­n keinen Versuch, das in die eine oder andere Richtung festzulege­n. Diese Offenheit kennzeichn­et dieses Werk, aber auch andere Stücke von Britten – und ist für uns heute etwas ganz Wichtiges. Auch wenn Dinge manchmal eindeutig scheinen – gerade in der Beurteilun­g von Gut und Böse oder richtig und falsch – kann man in einer anderen Sichtweise zu einer anderen Bewertung kommen.

CORNELIUS MEISTER wurde 1980 in Hannover geboren, war 2005 bis 2012 Generalmus­ikdirektor am Theater Heidelberg und ist seit 2010 Chefdirige­nt beim ORF-Radiosymph­onie-Orchester.

 ?? Foto: Monika Rittershau­s, Theater an der Wien ?? Der Lehrling des Fischers Peter Grimes ist tot. Grimes wird des Mordes verdächtig­t: So der Plot der 1945 uraufgefüh­rten Oper, die um 1830 an der Ostküste Englands spielt.
Foto: Monika Rittershau­s, Theater an der Wien Der Lehrling des Fischers Peter Grimes ist tot. Grimes wird des Mordes verdächtig­t: So der Plot der 1945 uraufgefüh­rten Oper, die um 1830 an der Ostküste Englands spielt.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria