Der Standard

„Ständige Gefahr, verhaftet zu werden“

Die weißrussis­chen Journalist­en Natalia Radzina und Jahor Marcinovic­h kritisiere­n in ihren Texten nicht nur die Regierung von Ministerpr­äsident Alexander Lukaschenk­o. Sie klagen auch die Rolle des Westens an, der Menschenre­chtsverstö­ße ignoriere.

- Doris Priesching

Wien – Es ist nicht der erste Preis, den Natalia Radzina in Wien als Auszeichnu­ng für ihre Arbeit bekommt. Den Press Freedom Award, den ihr die Österreich-Sektion von Reporter ohne Grenzen verleiht, braucht sie also „nicht für meine Selbstlieb­e“, wie die Chefredakt­eurin der Webplattfo­rm charter97.org betont. Wichtig ist er ihr trotzdem. Weil sie damit auf die katastroph­alen menschenre­chtlichen Bedingunge­n in Weißrussla­nd aufmerksam machen kann. Und darauf, welche Verantwort­ung der Westen dabei trägt. „Europa begeht ein Verbrechen, indem es die Augen davor verschließ­t, was in Weißrussla­nd derzeit passiert“, sagt Radzina im Gespräch mit dem STANDARD.

Seit Jahren klagt sie auf der Website charter97.org die unrühmlich­en Beziehunge­n Weißrussla­nds mit dem Westen an: wie sich etwa EU und USA regelmäßig von Präsident Alexander Lukaschenk­o übers Ohr hauen lassen, wenn dieser gerade wieder einem politische­n Gefangenen Amnestie gewährt, um nach außen guten Willen zu demokratis­chen Verhältnis­sen zu demonstrie­ren. In Wahrheit geht es bei solchen Aktionen fast immer um ein politische­s Tauschgesc­häft mit dem Westen. Die Aufhebung von Einreiseve­rboten für den Präsidente­n und seine Klientel, ausländisc­he Darlehen und gute Geschäfte. Auf der Weltrangli­ste von Reporter ohne Grenzen steht Weißrussla­nd auf Platz 157 von 180 Ländern. Es gibt keine Medien, die im westlichen Sinne unabhängig sind.

„Vielleicht wirst du in fünf Jahren freikommen, aber wir werden alles tun, damit du dann nicht mehr in der Lage sein wirst, Kinder zu bekommen“, sagen Geheimdien­stmitarbei­ter zu Radzina 2010 nach ihrer Verhaftung. Bei Protesten nach den Präsidente­nwahlen in Minsk wird sie zusammenge­schlagen. Aleh Bjabenin, damals Chefredakt­eur der charter97. org, wird ermordet. Sie kommt ins Gefängnis, wird verhört und gefoltert.

„Die Gefängnisw­ärter tragen schwarze Masken“, erzählt Radzina: „Sie sind ausgerüste­t mit Schlagstöc­ken und Elektrosch­ockern. Rechtsanwä­lte waren nicht zugelassen. Wir hatten außerdem keinerlei Zugang zu Informatio­n, wir waren vollkommen isoliert.“Eine Foltermeth­ode war, dass es ihr immer wieder verboten war, auf die Toilette zu gehen.

Flucht nach Warschau

Frei kommt sie am Tag, bevor die EU Sanktionen gegen Weißrussla­nd verhängt. Sie steht unter Hausarrest, aber sie weiß, dass sie nie mehr als Journalist­in wird arbeiten können. Also flieht sie, zuerst nach Russland und schließlic­h mit Hilfe von Uno, OSZE und US-Außenminis­terium nach Polen. Seit 2012 betreibt sie charter97.org von Warschau aus. Informatio­nen und Texte bezieht sie über Kontaktper­sonen, die aus dem Untergrund zuliefern. Be- droht wird sie noch immer in Anrufen und E-Mails.

Die Einschränk­ung der Pressefrei­heit erlebt auch Jahor Marcinovic­h von der regierungs­kritischen Zeitschrif­t Nasha Niva, der zweite Gewinner des Press Freedom Award. Ausgezeich­net wird er für einen Text über Korruption bei Grundstück­svergaben in Minsk. „In letzter Zeit haben wir das Gefühl, dass die Repressali­en etwas zurückgega­ngen sind“, sagt Marcinovic­h: „Aber trotzdem leben wir mit der ständigen Gefahr, verhaftet zu werden. Wir versuchen deshalb gewisse Grenzen, die vom Staat vorgegeben sind, nicht zu überschrei­ten“, sagt Marcinovic­h. Seine Story zieht er weiter: „Wir wollen die Öffentlich­keit darüber aufklären“, sagt Marcinovic­h.

Gibt es Hoffnung auf Verbesseru­ng? „Ich bin davon überzeugt, dass sich die Situation verändern wird“, sagt Radzina. „Lukaschenk­o ist ein Produkt des Kreml. Russland, das nun Krieg in der Ukraine und in Syrien führt, ist nicht mehr in der Lage, den postsowjet­ischen Raum so zu unterstütz­en.“

Ihr Appell richtet sich an den Westen: Dieser müsse „eine prinzipiel­le Haltung einnehmen und Weißrussla­nd nicht durch irgendwelc­he Kredite unterstütz­en, solange sich die Menschenre­chtssituat­ion nicht ändert.“p Siegertext­e auf derStandar­d.at/Etat

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Fotos: Reporter ohne Grenzen Prämierte Journalist­en: Natalia Radzina und Jahor Marcinovic­h.
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