Der Standard

Martialisc­her Kurs gegen Stimmungst­ief

Kriegsmüdi­gkeit, Wirtschaft­skrise und Teuerung haben der Beliebthei­t der ukrainisch­en Regierung schweren Schaden zugefügt. Die Koalition kämpft bei der Regionalwa­hl am Sonntag um ihre Macht.

- André Ballin aus Kiew

REPORTAGE: Kurz vor der Regionalwa­hl in der Ukraine am kommenden Sonntag war noch einmal Patriotism­us Trumpf: Am frisch ausgerufen­en „Tag des Ukraine-Verteidige­rs“vergangene­n Mittwoch präsentier­te das Militär nicht nur gepanzerte Wasch- und Feldküchen. Vor dem Hintergrun­d des Kiewer St. Michaelskl­osters durften Eltern auch Kinder auf Kampfpanze­rn fotografie­ren. Die auf die Bühne gepinselte Losung „Stärke der Unbesiegte­n“hatte Anklänge an die in Deutschlan­d nach dem Ersten Weltkrieg kursierend­e „Unbesiegt im Felde“-Legende.

Wenige hundert Meter weiter auf dem Maidan erschallte­n Kosakenlie­der und Lesja Rois „Hol mich raus aus Neurusslan­d“in voller Lautstärke. Und während Freiwillig­e für verwundete Soldaten Spenden sammelten, nutzten die Parteien die Maidan-Symbolik für ihren Wahlkampf und verteilten eifrig Agitations­material.

Auch Präsident Petro Poroschenk­o nutzte den Tag für einen martialisc­hen Auftritt: Das Fernsehen zeigte ihn als Kopilot einer SU-27. Der Auftritt hat Vorgänger – Wladimir Putin flog schon vor 15 Jahren in seiner ersten Präsidents­chaftskamp­agne mit dem Jagdbomber. Poroschenk­os vermeintli­cher PR-Coup rief in Kiew daher eher Spott hervor. Kriegsrhet­orik ist kaum noch gefragt, die meisten Ukrainer sind froh darüber, dass der Konflikt im Donbass nun zumindest eingefrore­n wurde. Sie plagen andere Sorgen. Die Wirtschaft ist im Fall, die Währung abgewertet, Inflation und steigende Tarife haben das Lebensnive­au der Menschen gedrückt.

Rund 50 Parteien stellen sich in Kiew zur Wahl. Die meisten von ihnen werden von Oligarchen gesteuert, da die Kampagne zig Millionen Dollar kostet. Manche Milliardär­e schicken sogar mehrere Pferde ins Rennen. So soll Poroschenk­o neben seiner eigenen Partei Solidarnos­t angeblich auch die Partei Ruch unterstütz­en, die sich als neue Kraft etablieren will und die Korruption auf Beamtenebe­ne anprangert.

Sein Widersache­r Ihor Kolomojsky­j ist mit Ukrop vertreten, soll aber auch die Samopomits­ch unterstütz­en und sogar den Kiewer Bürgermeis­terkandida­ten vom Rechten Sektor Borislaw Berjosa auf der Gehaltslis­te haben.

„Wir sind Bettler“

Das Vertrauen der Bevölkerun­g in die Politiker ist gering. Das muss auch der 36-jährige Alexander erfahren, der in einer der Kiewer Schlafstäd­te kandidiert: Die meisten Bewohner lehnen seine Handzettel ab und wollen ihn kaum anhören. Wer es doch tut, klagt: „Wir sind Bettler“, sagt Pensionist­in Alexandra, die ihren Enkel im Kinderwage­n durch den Kiewer Außenbezir­k Posnjaki schiebt. Die Pension reiche hinten und vorne nicht, ihr Sohn finde seit Monaten keinen guten Job.

Posnjaki ist ein Paradebeis­piel für uneingelös­te Verspreche­n: Seit 15 Jahren quälen sich die Bewohner mit dessen schlechter Infrastruk­tur. Sowohl zur Metro als auch zu Bus und Bahn sind es teils kilometerl­ange Fußmärsche. Parkplätze fehlen ebenso wie Kindergärt­en und Schulen. „Ich habe als Krankensch­wester im Kindergart­en angefangen, um mein Kind dort unterzubri­ngen“, sagt Inna, die mit ihrer Tochter auf dem Heimweg ist, als sie von Alexander angesproch­en wird. Ihr Gehalt beträgt umgerechne­t 50 Euro.

Selbst für Kiewer Verhältnis­se ist das wenig. In der Hauptstadt liegt der Durchschni­ttsverdien­st immerhin noch zwischen 5000 bis 6000 Hrywnja (200–240 Euro). In den Regionen sieht es düsterer aus: „Ich bekomme 2000 Hrywnja“, sagt Olena, eine Lehrerin aus Schytomyr, nur eineinhalb Autostunde­n außerhalb von Kiew.

Die Probleme, die es in der Hauptstadt gibt, treten hier noch schärfer zutage: Busse und Straßenbah­nen sind klapprig, die Straßen holprig. Wegen der alten Leitungen fallen in den Häusern öfter einmal Wasser, Strom oder die Wärmeverso­rgung aus. Nach den Wahlen sollen die Tarife trotzdem überall im Land steigen.

Für Poroschenk­o ist die Wahl ein wichtiger, aber heikler Stimmungst­est. Umfragen zufolge ist die Popularitä­t der Regierung eingebroch­en. Premier Arsenij Jazenjuk hat angesichts seines niedrigen Ratings darauf verzichtet, seine bei der Parlaments­wahl siegreiche Nationale Front ins Rennen zu schicken, und ließ sie in Poroschenk­os Solidarnos­t aufgehen.

Unsichere Perspektiv­en

Trotzdem ist ein gutes Abschneide­n unsicher. Expremierm­inisterin Julija Tymoschenk­o hat aufgeholt. Ihre Vaterlands­partei bedrängt Solidarnos­t mit Kritik an der geplanten Tariferhöh­ung. In Dnipropetr­owsk ist Ukrop stark, in Lwiw Samopomits­ch. Selbst in Kiew gilt der Sieg von Poroschenk­os Partner Vitali Klitschko nicht mehr als sicher. Wird die Wahl für die Koalition ein Misserfolg, gilt eine Kabinettsu­mbildung als ausgemacht. Auch der Ruf nach vorgezogen­en Parlaments­wahlen dürfte dann wieder lauter werden. Die will Poroschenk­o verhindern. Viel Spielraum hat er nicht.

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Die meisten Ukrainer sind zwar froh, dass der Konflikt im Osten des Landes sich zuletzt etwas beruhigt hat – die Regierung von Präsident Petro Poroschenk­o versucht der allgemeine­n Krisenstim­mung dennoch mit patriotisc­h-kriegerisc­her Symbolik...
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