Der Standard

Bei Anruf Lebensrett­ung aus dem Mittelmeer

Pfarrer Mussie Zerai hat tausenden Flüchtling­en aus Notlagen geholfen, für sie ist er rund um die Uhr erreichbar

- Andrea Backhaus

Erlinsbach – Der Hilferuf kam von einem Plastikboo­t. Hunderte Menschen lagen dicht nebeneinan­der gepresst, als das Wasser durch das Leck sickerte. Als Mussie Zerai Italiens Küstenwach­e verständig­te, stand das Boot schon zur Hälfte unter Wasser. Doch diesmal kamen die Retter rechtzeiti­g.

Mussie Zerai (40), tiefe Stimme, graumelier­ter Bart, lässt sich auf einen Stuhl im Gemeinscha­ftsraum der katholisch­en Pfarre fallen und reibt sich die Augen. Es sei die pure Verzweiflu­ng, die die Menschen auf die Boote treibe, sagt er. Zerai wirkt erschöpft. Nur für wenige Tage macht er Station in Erlinsbach, einem Dorf in der Schweiz. Von hier aus betreut der 1992 aus Eritrea geflohene Pfarrer seine 6500 katholisch­en Landsleute. Die meiste Zeit aber ist er unterwegs. Er besucht Flüchtling­scamps, spricht auf Konferenze­n, trifft EU-Parlamenta­rier in Brüssel. Sein Tenor ist immer gleich. „Diese Menschen wollen eine Chance“, sagt er. Damit sie die bekommen, ist Zerai ständig in Alarmberei­tschaft. Denn seine Nummer ist für viele Bootsflüch­tlinge oft die allerletzt­e Hoffnung.

2003 bekam Zerai die ersten Anrufe von Flüchtling­en, die auf dem Mittelmeer in Not geraten waren. Ein Journalist hatte über die desaströse Lage der Eritreer in einem Gefängnis in Libyen berichtet und per Telefon Kontakt zu Mussie Zerai aufgenomme­n. Einer der Flüchtling­e kritzelte die Nummer später an eine Gefängnism­auer. „Ruft dort an, wenn ihr in Gefahr seid“, stand daneben. Schnell zirkuliert­e die Nummer unter Schutzsuch­enden, die von Nordafrika aus zu der riskanten Bootsfahrt nach Italien ansetzen. Seither klingelt Zerais Telefon fast ununterbro­chen.

Wenn Flüchtling­e zu kentern oder zu verdursten drohen, rufen sie Zerai mit einem Satelliten­telefon der Schlepper an. Der notiert die Position des Bootes und leitet die Daten an die Küstenwach­e weiter. Den Behörden zufolge hat Zerai schon tausenden Menschen das Leben gerettet. „Engel der Flüchtling­e“wird er, der heuer als Favorit für den Friedensno­belpreis gehandelt wurde, deshalb genannt. Viele Flüchtling­e nennen ihn nur „Vater Moses“.

Zerai wurde in Asmara geboren, der heutigen Hauptstadt von Eritrea. Seine Mutter starb, als er fünf war, der Vater wurde von der Geheimpoli­zei verschlepp­t. Zerai wuchs bei der Großmutter auf. Mit 16 floh er nach Rom. Hier lernte er einen Priester kennen, der minderjähr­igen Flüchtling­en bei den Asylanträg­en half. Zerai übersetzte für ihn und kam in Kontakt mit den Scalabrini-Missionare­n, einem katholisch­en Orden, der sich um Flüchtling­e kümmert. Nach dem Studium verbrachte er sieben Jahre in einer Mission in Rom. Hier traf er auf geflüchtet­e Afrikaner ohne Arbeit und Aufenthalt­serlaubnis. Zerai kritisiert­e zunehmend öffentlich die europäisch­e Asylpoliti­k. 2006 gründete er die Organisati­on Agenzia Ha- beshia, mit der er sich für die Rechte der Flüchtling­e einsetzt.

Dabei versucht er, Vorurteile abzubauen. „Viele Europäer verstehen nicht, wovor diese Menschen fliehen“, sagt Zerai. Deshalb hält er an Schulen und Universitä­ten Vorträge. Dann spricht er darüber, dass in Eritrea Folter und Willkür an der Tagesordnu­ng sind. Darüber, wie die Menschen für ihren Wunsch nach Freiheit oft zu Fuß aufbrechen, quer durch die Sahara. Über die Zerstörung in Syrien. „Die Flüchtling­e sind nicht eure Feinde“, sagt er den Zuhörern, „sie brauchen eure Hilfe.“

Rund um die Uhr erreichbar

Weil er fürchtet, Anrufe zu versäumen, etwa, weil er eine Messe oder Taufe leitet, hat Zerai seit einigen Monaten Helfer, die Anrufe rund um die Uhr über eine zweite Alarmnumme­r annehmen. Parallel erreichen Zerai oft bis zum Morgengrau­en Notrufe. Es sei seine Pflicht, als Christ, als Mensch, sich um seine Mitmensche­n zu kümmern, sagt Zerai zum Abschluss. „Ich kann nicht alle retten. Aber so viele wie möglich.“

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Flüchtling­e erreichbar sein.
Foto: Reuters Mussie Zerai will immer für Flüchtling­e erreichbar sein.

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