Bei Anruf Lebensrettung aus dem Mittelmeer
Pfarrer Mussie Zerai hat tausenden Flüchtlingen aus Notlagen geholfen, für sie ist er rund um die Uhr erreichbar
Erlinsbach – Der Hilferuf kam von einem Plastikboot. Hunderte Menschen lagen dicht nebeneinander gepresst, als das Wasser durch das Leck sickerte. Als Mussie Zerai Italiens Küstenwache verständigte, stand das Boot schon zur Hälfte unter Wasser. Doch diesmal kamen die Retter rechtzeitig.
Mussie Zerai (40), tiefe Stimme, graumelierter Bart, lässt sich auf einen Stuhl im Gemeinschaftsraum der katholischen Pfarre fallen und reibt sich die Augen. Es sei die pure Verzweiflung, die die Menschen auf die Boote treibe, sagt er. Zerai wirkt erschöpft. Nur für wenige Tage macht er Station in Erlinsbach, einem Dorf in der Schweiz. Von hier aus betreut der 1992 aus Eritrea geflohene Pfarrer seine 6500 katholischen Landsleute. Die meiste Zeit aber ist er unterwegs. Er besucht Flüchtlingscamps, spricht auf Konferenzen, trifft EU-Parlamentarier in Brüssel. Sein Tenor ist immer gleich. „Diese Menschen wollen eine Chance“, sagt er. Damit sie die bekommen, ist Zerai ständig in Alarmbereitschaft. Denn seine Nummer ist für viele Bootsflüchtlinge oft die allerletzte Hoffnung.
2003 bekam Zerai die ersten Anrufe von Flüchtlingen, die auf dem Mittelmeer in Not geraten waren. Ein Journalist hatte über die desaströse Lage der Eritreer in einem Gefängnis in Libyen berichtet und per Telefon Kontakt zu Mussie Zerai aufgenommen. Einer der Flüchtlinge kritzelte die Nummer später an eine Gefängnismauer. „Ruft dort an, wenn ihr in Gefahr seid“, stand daneben. Schnell zirkulierte die Nummer unter Schutzsuchenden, die von Nordafrika aus zu der riskanten Bootsfahrt nach Italien ansetzen. Seither klingelt Zerais Telefon fast ununterbrochen.
Wenn Flüchtlinge zu kentern oder zu verdursten drohen, rufen sie Zerai mit einem Satellitentelefon der Schlepper an. Der notiert die Position des Bootes und leitet die Daten an die Küstenwache weiter. Den Behörden zufolge hat Zerai schon tausenden Menschen das Leben gerettet. „Engel der Flüchtlinge“wird er, der heuer als Favorit für den Friedensnobelpreis gehandelt wurde, deshalb genannt. Viele Flüchtlinge nennen ihn nur „Vater Moses“.
Zerai wurde in Asmara geboren, der heutigen Hauptstadt von Eritrea. Seine Mutter starb, als er fünf war, der Vater wurde von der Geheimpolizei verschleppt. Zerai wuchs bei der Großmutter auf. Mit 16 floh er nach Rom. Hier lernte er einen Priester kennen, der minderjährigen Flüchtlingen bei den Asylanträgen half. Zerai übersetzte für ihn und kam in Kontakt mit den Scalabrini-Missionaren, einem katholischen Orden, der sich um Flüchtlinge kümmert. Nach dem Studium verbrachte er sieben Jahre in einer Mission in Rom. Hier traf er auf geflüchtete Afrikaner ohne Arbeit und Aufenthaltserlaubnis. Zerai kritisierte zunehmend öffentlich die europäische Asylpolitik. 2006 gründete er die Organisation Agenzia Ha- beshia, mit der er sich für die Rechte der Flüchtlinge einsetzt.
Dabei versucht er, Vorurteile abzubauen. „Viele Europäer verstehen nicht, wovor diese Menschen fliehen“, sagt Zerai. Deshalb hält er an Schulen und Universitäten Vorträge. Dann spricht er darüber, dass in Eritrea Folter und Willkür an der Tagesordnung sind. Darüber, wie die Menschen für ihren Wunsch nach Freiheit oft zu Fuß aufbrechen, quer durch die Sahara. Über die Zerstörung in Syrien. „Die Flüchtlinge sind nicht eure Feinde“, sagt er den Zuhörern, „sie brauchen eure Hilfe.“
Rund um die Uhr erreichbar
Weil er fürchtet, Anrufe zu versäumen, etwa, weil er eine Messe oder Taufe leitet, hat Zerai seit einigen Monaten Helfer, die Anrufe rund um die Uhr über eine zweite Alarmnummer annehmen. Parallel erreichen Zerai oft bis zum Morgengrauen Notrufe. Es sei seine Pflicht, als Christ, als Mensch, sich um seine Mitmenschen zu kümmern, sagt Zerai zum Abschluss. „Ich kann nicht alle retten. Aber so viele wie möglich.“