Weiter Proteste in Ankara
Die Ermittlungen nach dem schwersten Terroranschlag in der Geschichte der Türkei richten sich gegen die Extremisten des „Islamischen Staats“. Die Regierung ist in Erklärungsnot. Zehntausende Protestierende warfen ihr Versagen oder gar Mittäterschaft vor.
Tausende gingen am Sonntag nach dem schlimmsten Terrorakt in der Geschichte der türkischen Republik auf die Straße.
Ankara/Wien – Wut und Trauer sind stärker als die Furcht vor weiteren Anschlägen. Tausende Türken gingen am Sonntagmorgen in Ankara auf die Straße, einen Tag nach dem schlimmsten Terrorakt in der Geschichte der türkischen Republik. „Erdogan, Mörder“, rief die Menge, die zum Sihhiye-Platz im Zentrum der Hauptstadt zog. Der Großteil der Demonstranten, die landesweit in Städten protestierten, geben dem Staatspräsidenten und seiner Regierung die Schuld an dem Anschlag.
Zwei Selbstmordattentäter hatten sich am Samstagvormittag vor dem Hauptbahnhof in Ankara in die Luft gesprengt. 96 Menschen sollen dabei ums Leben gekommen sein, 246 wurden verletzt. 128 Tote seien es in Wahrheit gewesen, sagte der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtaş in seiner Ansprache auf dem Sihhiye-Platz. Der Anschlag richtete sich gegen Teilnehmer an einer Friedenskundgebung, die aus allen Teilen des Landes nach Ankara kamen und sich gerade auf einem Platz zwischen Bahnhof und der Kongresshalle Ankara-Arena zu versammeln begannen. Zum „Arbeiter-Friedenstag“, der Samstagmittag als Kundgebung auf eben dem Sihhiye-Platz stattfinden sollte, hatten Gewerkschaften, Berufskammern und die kurdisch orientierte Minderheitenpartei HDP aufgerufen. Sie wollte ein Zeichen gegen den Krieg setzen, den der türkische Staat und die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans PKK seit Ende Juli führen.
Möglicherweise Attentäterin
Die beiden Attentäter sollen als Sprengstoff TNT verwendet haben und kleine Metallkugeln, um möglichst viele Opfer zu verursachen. Einer der Selbstmordattentäter sei eine Frau gewesen, berichteten türkische Medien am Sonntag unter Berufung auf Ermittler.
Der konservativ-islamische Regierungschef Ahmet Davutoglu hatte am Samstagabend noch die PKK selbst als mögliche Urheberin des Anschlags genannt. Doch die Ermittlungen richteten sich ausschließlich gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“(IS), wie türkische Sicherheitskreise der Nachrichtenagentur Reuters am Sonntag sagten. Der Anschlag in Ankara sei ähnlich dem Selbstmordattentat in der Stadt Suruç an der türkisch-syrischen Grenze im vergangenen Juli. Damals wurden 33 junge Türken getötet, meist kurdische Studenten. Angebliche PKK-Mitglieder brachten daraufhin zwei türkische Polizisten in ihrer Wohnung um. Das nahm Staatschef Tayyip Erdogan zum Anlass für den Krieg gegen die PKK.
Der Anschlag in Suruç war bereits dem IS zugeschrieben worden. Selahattin Demirtaş, der KoVorsitzende der HDP, hatte damals schon der Regierung vorgeworfen, aus Machtkalkül mit dem IS zu kollaborieren, um Unruhe im Land zu provozieren und den Friedensprozess mit der PKK zu beenden. Der HDP war bei den Wahlen im Juni erstmals der Einzug ins Parlament gelungen; sie nahm dadurch der regierenden AKP nach mehr als zwölf Jahren an der Macht die absolute Mehrheit. Weil danach keine Koalition zustande kam, müssen die Türken am 1. November nochmals wählen.
Demirtaş, aber auch die Führer der anderen Oppositionsparteien – der Sozialdemokrat Kemal Kiliç- daroglu und der Rechtnationalist Devlet Bahçeli – warfen der Regierung Versagen beim Schutz der Kundgebung in Ankara vor. Diese wies das zurück. Sicherheitsexperten äußerten aber ähnliche Zweifel. „Natürlich gibt es hier ein Sicherheitsversagen“, sagte etwa der frühere Polizeichef Murat Çetiner – er hatte einmal eine Ohrfeige von der Kurdenpolitikerin Sebahat Tuncel erhalten – türkischen Medien: „Wenn mehrere Bomben in einer Hauptstadt hochgehen, dann ist es kindisch zu sagen, es gäbe kein Versagen.“Justizminister Kenan Ipek grinste bei einer Pressekonferenz, als der neben ihm sitzenden Innenminister Selami Altinok gefragt wurde, ob er einen Rücktritt erwäge.
Druck auf Medien
Die Regierung erließ wie in früheren Fällen ein Berichtverbot über das Attentat für die türkischen Medien. Nutzer des Kurznachrichtendienstes Twitter in der Türkei bemerkten am Samstag deutliche Einschränkungen. Der Chefredakteur der im Ausland beachteten, englischsprachigen türkischen Tagezeitung Today’s Zaman, Bülent Keneş, war am Freitag mit dem Vorwurf der Präsidentenbeleidigung aus seinem Redaktionsbüro abgeführt und ins Gefängnis gebracht worden.
Natürlich ist jetzt wieder niemand verantwortlich. Weder die türkische Polizei noch Geheimdienst noch Innenminister noch gar Premier und Präsident, die kaum eine Gelegenheit auslassen, gegen die kurdisch orientierte Parlamentspartei HDP zu sticheln. Den verheerenden Terroranschlag in Ankara auf eine Massenkundgebung von Regierungsgegnern haben sich – so lautet ihre Argumentation – die Kurden und die linken und liberalen Türken selbst zuzuschreiben: „Das Volk hat Chaos gewählt statt Stabilität“, twitterte Burhan Kuzu, ein führender AKPPolitiker und Chefberater von Staatspräsident Tayyip Erdogan, nach den Parlamentswahlen im Juni. Selbst schuld.
Der Anschlag von Ankara kam nur drei Wochen vor den nächsten Parlamentswahlen, bei denen die Wähler ihren „Fehler“vom Juni korrigieren und der konservativ-islamischen AKP wieder zur Alleinregierung verhelfen sollen. Für viele Bürger im Land sind diese Art von politischer Gängelei und die scheinbare Ohnmacht der Regierung, die Terroranschläge zu verhindern, zutiefst verstörend. Es macht keinen Sinn – oder nur diesen nicht akzeptablen Sinn, dass der politischen Führung in der Türkei alles recht wäre, um wieder uneingeschränkt bestimmen zu können.
Die Waffenruhe der PKK hat die Regierung sogleich verworfen. Sie bombt weiterhin gegen Stellungen der Untergrundarmee. Europa sorgt sich jetzt um die Türkei, die doch Flüchtlinge aufhalten soll. Damit wird man warten müssen.