Der lange Schatten eines üblen Machwerks
Beim Steirischen Herbst nimmt sich das Theaterkollektiv Rimini Protokoll Adolf Hitlers „Mein Kampf“vor. Sogenannte Experten des Alltags lesen auszugsweise aus dem Machwerk.
Als die Theatergruppe Rimini Protokoll vor sechs Jahren in Düsseldorf von Karl Marx auf die Bühne brachte, wurden erst mal die blauen Bände im Saal verteilt. Dennoch bleibt es eine dürftige Pointe, wenn die jetzt wortwörtlich aus den begehbaren Regalen geräumt werden, um dem berühmtesten Unbuch des vorigen Jahrhunderts Platz zu machen.
70 Jahre nach Adolf Hitlers Freitod hat die bekannte Truppe noch allerhand Exemplare von Mein Kampf zusammenbekommen. Eins davon in Weimar, für immerhin 120 Euro. Es gehört zum informatorischen Nährwert der Aufführung, dass das ganze juristische Getöse rund um dieses Buch, seinen Besitz, seine private oder öffentliche Lektüre und Verbreitung, seine Neuauflage so ausführlich zur Sprache kommt.
Natürlich blättern und lesen die Darsteller darin: Die junge Anwältin (Anna Gilsbach), die sich mit den juristischen Aspekten der kritischen Neuausgabe befasst. Die gestandene Professorin Sibylla Flügge, die als 14-Jährige Hitlers Buch teilweise abschrieb, ihren Eltern zu Weihnachten schenkte und deren Schwester Terroristin wurde. Der Anwalt Alon Kraus aus Israel, der das Machwerk sogar in verschiedenen Sprachen gelesen hat und in Israel am Strand schon mal einer deutschen Touristin daraus vorlas. Der blinde Radiosprecher Christian Spremberg, der aus einem Exemplar in Blindenschrift Stilblüten zum Besten gibt. Schließlich der deutsch-türkische Rapper Volkan T Error und der Weimarer Buchbinder Matthias Hageböck – sie sind die „Experten des Alltags“, von denen diese Form des Theaters lebt.
Schwächen des Stils
Häppchenweise, sogar mit einer Portion Witz, führen sie die Schwäche des Stils und die Banalität der kolportierten rassistischen Klischees vor. Am Ende hatten die Nazis mehr als zwölf Millionen Exemplare unters Volk gebracht. Kein Wunder, dass etliche überdauert haben. In den Bibliotheken, in der zweiten Reihe des gutbürgerlichen Bücherregals oder auf dem Dachboden. Es gab Zeiten, da musste man es besitzen, ihre Pupillen damit belastet haben die wenigsten. Gern denkt man an Helmut Qualtingers Lesungen daraus, dessen Mischung aus Ernsthaftigkeit und Besessenheit gleichermaßen amüsierte wie erschreckte.
Ob man es heute lesen sollte, wird ab Januar 2016 weniger eine Frage der politischen Bildung als des Urheberrechts sein. Die 70 Jahre nach dem Tod des Autors, in denen der Freistaat Bayern namens der bundesdeutschen Staatsraison eine Neuauflage verhindern konnte, sind mit Ablauf dieses Jahres vorbei.
Immerhin mittelmäßig
Eine kritisch kommentierte Neuausgabe wird vorbereitet. Einer der Herausgeber kommt in einem Einspieler zu Wort – um zu erklären, dass Hitlers Buch, verglichen mit der Sprache Goethes oder Thomas Manns, ein schlechtes Buch sei, aber verglichen mit dem Vokabular der einschlägigen völkischen Literatur der Zwanzigerjahre immerhin mittelmäßig.
Die Aufführung, die Hildegard Haug und Daniel Wetzel in Szene setzen, baut weniger todernst auf eine diskursive Polemik mit hasserfüllten rassistischen Tiraden und den Träumen vom völkischen Lebensraum als vielmehr mit kabarettistischem Augenzwinkern auf Entdämonisierung.
Das ist ein Vorzug, der auch dem Einsatz der Laiendarsteller zu verdanken ist. Die assoziieren nach zufällig ausgewählten Buchstaben, spielen eine Knesset-Debatte über die Freigabe einer hebräischen Ausgabe nach, machen ein kollektives „Ja oder nein“Spiel: „Würden Sie im Café Mein Kampf auf den Tisch legen?“
Sie berichten von einer Exkursion nach Braunau, zu Hitlers Geburtshaus, und diskutieren des- sen Zukunftsperspektiven. Sie versuchen rauszukriegen, wie
klingt (wie ein Maikäfer, der Bomben wirft, sagt einer). Nach gut zwei Stunden stehen alle vor einem XXL- Mein-Kampf- Bücherrücken und hören einfach auf. Mit einem Thema, das sich immer wieder selbst in Erinnerung bringt. Ganz aktuell, wenn dumpfer Hass vor Asylantenheimen herausgebrüllt wird. Oder ab Jänner eben im Buchhandel.