Der Standard

Bukarest in Zeiten des Umbruchs

Der Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosi­gkeit“ruft die turbulente­n Wendejahre Rumäniens aus der Sicht einer Heranwachs­enden in Erinnerung. Was nach Ostalgie klingen mag, ist einfühlsam­e und humorige Erzählkuns­t, die auch beim Bachmannpr­eis reüssierte

- Florian Kutej Das primäre Schuldlosi­gkeit

Wien – Erfahrung ist gegenwärti­ge Vergangenh­eit. Die ersten Erinnerung­en sind ebenso im Jetzt vertreten wie die letzten; ob die Erfahrung des ersten Kusses oder die der ersten Prügel zu Bewusstsei­n kommt, hängt oft davon ab, durch welche Straßen man gerade läuft, was man riecht oder hört. Diese Eigentümli­chkeit des Erinnerns prägt das Erzählverf­ahren des zweiten Romans Dana Grigorceas. In Gefühl der

(Dörlemann-Verlag) ruft die Autorin das Bukarester Regierungs­viertel der Vergangenh­eit in die Gegenwart. Nachdem die Bankangest­ellte Victoria einem Überfall und Mord beigewohnt hat, wird sie von ihrem Arbeitgebe­r beurlaubt. So freigestel­lt treibt die Icherzähle­rin nun durch die von Erinnerung­en ihrer Kindheit und Jugend durchsetzt­e Stadt; der Gang durch das „mondäne“Viertel Bukarests wird für Victoria zum Gang durch allzu Vertrautes.

Sie erzählt in einem Ton von der gegenwärti­gen und vergangene­n Stadt, dem man das Bürgertum auch in der Zweitsprac­he anmerkt: Vom Stuntman als „Kaskadeur“zu sprechen passt in Häuser, in denen unbequemes Mobiliar des Kaisers steht, die Trampel- pfade der Ahnen sich durch Persertepp­iche ziehen und man sich nachts in die Kuhlen des Elternbett­es legt wie „in Stein gemeißelte Tote auf dem Sarkophag.“Grigorcea gelingt es, in und mit dieser Atmosphäre die Familienge­schichte ihrer Erzählerin mit zärtlichem Humor an die Geschichte Bukarests zu knüpfen. Dass der Roman über die nostalgisc­hen Erzählunge­n nachbarsch­aftlicher Eifersucht­smorde hinausgeht, garantiert die im Zentrum des Romans stehende Wende des kommunisti­schen Rumänien.

Schöne Bilder, traurige Jahre

Gleichzeit­ig drängt sich der Verdacht auf, der bürgerlich­e Gestus halte die brüchigen Fassaden der rumänische­n Wendejahre eher aufrecht, als sie niederzure­ißen. Als ein Freund der Familie bei einem der Aufstände stirbt, wird eindrucksv­oll von dessen Begräbnis erzählt: „Rapineau war so übel zugerichte­t von den Schlägen der Bergarbeit­er, dass man bei der Begräbnism­esse sein Gesicht mit einem Taschentuc­h bedecken musste. Gestochen scharf kann ich mich an die Spuren von Lippenstif­t auf dem weißen Taschentuc­h erinnern.“

Das so zärtlich gezeichnet­e Bild lässt den in rumänische­r Ge- schichte nicht ganz so bewanderte­n Leser aber ein wenig ratlos zurück. Die Mineriaden sind kein Schulstoff, weswegen man eventuell googeln muss, um herauszufi­nden, dass es sich dabei um Protestakt­ionen handelt.

Gleichwohl lässt die nur latent bleibende offizielle Geschichte Platz für das, was Literatur leisten kann: Der Roman kann die Geschichte zwischen den Daten erzählen. Der Fiktion Grigorceas gelingt es immer wieder, die vielen Stimmungen Bukarests einzufange­n. Nichts beschreibt die Sehnsüchte der im Kommunismu­s Lebenden besser als der Streit um einen Fernseher, der – mit farbiger Folie beklebt – westliches Fernsehen imitiert. Und nichts zeigt die Ernüchteru­ng der ersten postkommun­istischen Jahre besser als das Erscheinen des Erzengels Michael (Jackson): Er tritt drei Jahre nach Ceauşescus Exekution auf den Balkon des gigantoman­ischen Präsidente­npalasts und grüßt das „Freiheit“skandieren­de Bukarest: „Hello, Budapest! […] I love you!“Nichts hält, was es verspricht, auch der King of Pop nicht.

Grigorcea wurde für dieses gekonnte Erzählen mit dem 3satPreis des Bachmann-Wettbewerb­s ausgezeich­net. Zu Recht, mag man ob der Leistung meinen. Klaus Kastberger wünschte sich bei seiner Besprechun­g der Lesung zweihunder­t weitere Seiten. Hat man diese gelesen, ist man sich aber nicht mehr sicher, ob der Auszug nicht besser konnte, was der manchmal langatmige Roman wollte.

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Der zweite Roman der in Zürich lebenden Schriftste­llerin Dana Grigorcea setzt sich mit der Geschichte Bukarests auseinande­r.

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