Prost, aber doch lieber nicht Bayern werden!
Die Deutschen und die Bayern sind kein besonderes Vorbild, wenn man sich die konkreten Zahlen vor Augen hält. Eine Replik auf den Präsidenten der Wirtschaftskammer Christoph Leitl.
In Ihrem Kommentar, Herr Leitl, hängen Sie uns Bayern als Wunderland des Wirtschaftens vor Augen, um (wieder einmal) über Österreich herzuziehen. Man kann aber Bayern nicht von Deutschland und Deutschland nicht vom übrigen Europa abkoppeln („Wie Österreich bayerischer werden kann“, im STANDARD vom 18. 7. 2015).
Wenn nun eine Ihrer Forderungen die Reduktion der zu hohen Arbeitskosten nach deutschem Vorbild ist, so erleben wir gerade darin Deutschlands egoistische Politik in Reinkultur. Denn die einschneidenden Maßnahmen dabei sind die Verschlechterung des Rentensystems durch Hinaufsetzen des Rentenalters bei gleichzeitiger Teilprivatisierung, die Verteuerung der Gesundheitsvor- sorge, die Förderung von Billigjobs bis hin zu Hungerlöhnen durch Hartz IV. Das Deutsche Statistische Bundesamt schreibt: „Über einen längeren Zeitraum betrachtet nimmt Deutschland bei der Entwicklung der Arbeits- kosten eine Sonderstellung ein: Zwischen 2001 und 2011 hatte Deutschland mit +19,4 Prozent den mit Abstand geringsten Anstieg der Arbeitskosten aller Mitgliedstaaten der EU. In Frankreich sind die Arbeitskosten in diesem Zeitraum mit +39,2 Prozent mehr als doppelt so stark gestiegen. Im Jahr 2011 zahlten die Arbeitgeber in Deutschland in der Privatwirtschaft auf 100 Euro Bruttoverdienst zusätzlich 28 Euro Lohnnebenkosten. Damit lag Deutschland unter dem EU-Durchschnitt. Zum Vergleich: Schweden 52 Euro, Frankreich 50 Euro.“
Dieser brutale Konkurrenzkampf spaltet die eigene Bevölkerung genauso wie die EU. Denn mit dieser Lohn- und Sozialdumpingpolitik spielt Deutschland die anderen europäischen Staaten an die Wand und kann als Exportmeister brillieren; die desaströsen Folgen müssen wir derzeit leidvoll erleben. Es saniert sich also auf Kosten anderer Staaten. Dafür müsste Deutschland bestraft werden, was ja nach Maastricht eigentlich auch vorgesehen wäre.
Ihre Empfehlung, Herr Leitl, lautet: „Macht es den Bayern nach.“Von ganz Deutschland getrauen Sie sich nicht zu sprechen. Dann müssten Sie zugeben, wie Deutschland mit dieser Politik die eigene Bevölkerung trifft und ge- rade ihren so viel beschworenen Mittelstand schröpft. „Noch nie war die Armut so hoch, und noch nie war die regionale Zerrissenheit so tief wie heute“, heißt es im offiziellen Armutsbericht 2015.
Deutschland hat einen riesigen Niedriglohnsektor, 12,5 Millionen Deutsche sind arm, es gibt Charity-Aktionen für hungernde Kinder. Deutschland hat es seit der Wiedervereinigung nicht einmal geschafft, allen Bürgern im eigenen Land annähernd gleiche Chancen zu ermöglichen. In vielen Regionen der neuen Bundesländer haben die Menschen und (Früh-) Rentner seit nunmehr 25 Jahren keine Arbeit, die Jugendarbeitslosigkeit reicht bis zu 40 Prozent. Man ist froh, wenn sie in Österreich als Abwäscher oder Kellner Arbeit findet.
Und dorthin wollen Sie uns haben? Eine Spaltung der Österreicher in Arm und Reich? Bei uns werden dank starker Interessenvertretungen noch immer sehr viele Menschen relativ anständig bezahlt. Wieso stört Sie das? 98 Prozent arbeiten hier im Rahmen eines Kollektivvertrags, in Deutschland nur mehr knapp 50 Prozent! Bei uns gibt es noch im- mer Reste der Sozialpartnerschaft, in der auch die Arbeitnehmer etwas von den Produktivitätsfortschritten haben. In Österreich sind fast ausnahmslos alle sozialversichert, wir haben eine Mindestsicherung, um die uns – trotz berechtigter Kritik an der zu geringen Höhe – viele beneiden.
Wenn Sie von Reformen sprechen, so meinen Sie eine Spaltungs- und Verarmungspolitik für die Österreicher. Wieso sagen Sie den Menschen nicht ins Gesicht, dass Sie dafür sind, dass unser Pensionist weniger Pension, die Arbeitslosen weniger Arbeitslosengeld und alle schlechtere Gesundheitsleistungen bekommen sollen? Das sind nämlich die von Ihnen gescholtenen „Lohnnebenkosten“. An diesen hängen Sozialsystem und Wohlstand.
Das Problem ist also nicht, dass Österreich abgewirtschaftet hätte, sondern dass mit der neoliberalen Wende Europa und vor allem Deutschland den Pfad der sozialen Markwirtschaft (übrigens eine CDU-Erfindung!) verlassen hat und auf einen marktradikalen Weg umgeschwenkt ist. Das Reformproblem, das Sie uns andichten, besteht vor allem darin, dass die österreichische Politik gegen diese sozial rückwärtsgerichtete Politik noch immer relativ erfolgreich Widerstand geleistet hat. Wenn Sie wirklich etwas tun wollen für Österreich, dann sorgen Sie in Ihrer Partei und Interessenvertretung dafür, dass diese ihre Blockadepolitik etwa bei Bildung, gerechter (Vermögens-)Besteuerung und Arbeitszeitverkürzung aufgibt. Was Sie „Klassenkampfparolen“nennen, war einst der sozialpartnerschaftliche Konsens, mit dem Österreich wohlhabend geworden ist. Es sind Ihre Vorschläge, die Klassenkampf bedeuten. Beweisen Sie europäischen Weitblick. In einer Gemeinschaft arbeitet man nicht gegeneinander. Sie propagieren gemeinsam mit Merkel, Schäuble und Co eine EU der Konkurrenzstaaten, die uns jetzt schon um die Ohren zu fliegen beginnt. Retten wird Europa – und damit auch Österreich – nur ein Geist der Kooperation und des gemeinsamen Wirtschaftens.
SEPP WALL-STRASSER ist Bereichsleiter für Bildung und Zukunftsfragen im ÖGB Oberösterreich.