Jonas Vogt
Der Brexit könnte für Nordirland brisante Folgen haben. Ein Besuch in einem gespaltenen Land.
liebt an Auslandsreportagen vor allem, dass sie den eigenen Blickwinkel verändern. In der Schule lernte er noch, der Nordirlandkonflikt sei ›gelöst‹. Im November flog er zur Recherche hin und erlebte selbst, wie sehr die Vergangenheit die Region noch immer prägt. Insgeheim hofft Vogt, dass der Brexit nicht eintritt. Er glaubt aber nicht mehr daran.
Der graue Geländewagen bahnt sich seinen Weg über die grünen Hügel Fermanaghs, dem kleinsten der sechs nordirischen Countys. Hinter dem Steuer sitzt Eric Brown. Der schneidige Ex-Soldat mit dem grauen Bart ist das letzte überlebende Gründungsmitglied der South East Fermanagh Foundation (SEFF), einer Stiftung, die sich als Vertreterin aller unschuldigen Opfer des Nordirlandkonflikts in der Umgebung versteht. Brown kennt das Gelände, das er die ›killing fields von Fermanagh‹ nennt, wie seine Westentasche. Er rast über die engen Straßen und durch die uneinsehbaren Kurven. Alle zehn Minuten bremst er an einer Ecke abrupt ab, springt aus dem Auto und erzählt die blutige Geschichte des Ortes. Bushaltestellen, an denen Zivilisten auf dem Weg zur Arbeit starben. Landstraßen, auf denen am Höhepunkt des Konflikts jede Woche eine Bombe explodierte. Das Haus einer Bauernfamilie, deren ältester Sohn gezwungen wurde, einen Anhänger mit Sprengstoff in einen Militärposten zu fahren und der nur überlebte, weil der Traktor im Schlamm stecken blieb.
›Ihr wolltet die Grenze sehen, oder?‹ Brown grinst. Er biegt in eine kleine Landstraße ein, die sich im Zickzack an Bäumen und kleinen Teichen entlangschlängelt. Wasser spritzt an den Seiten des SUVs hoch, wenn er mit Anlauf in eine matschige Pfütze fährt. ›Jetzt sind wir in Irland. Jetzt in Nordirland. Jetzt wieder in Irland.‹ Brown macht das nicht zum ersten Mal, es ist eine gute Stelle, um Besuchern zu zeigen, für wie absurd er die Idee einer harten Grenze hält. ›Das ist verdammter Bullshit‹, sagt er, Angstmache. Niemand sei an einer harten Grenze interessiert, niemand würde dadurch gewinnen. ›Es wird keine Grenze kommen.‹
Eric Brown könnte sich irren. Durch den anstehenden Brexit ist die harte Grenze zwischen Nordirland und Irland eine realistische Möglichkeit geworden. Der irische Premierminister Leo Varadkar sagte unlängst, Irland bereite sich auf ein No-Deal-Szenario mit derselben Ernsthaftigkeit vor wie auf einen geregelten Ausstieg. Der Guardian berichtete, dass 1.000 zusätzliche Polizisten trainiert würden, um an einer plötzlich auftretenden Grenze aushelfen zu können.
Karl Marx schrieb einmal sinngemäß, dass sich Geschichte zweimal ereigne: einmal als Tragödie und einmal als Farce. Während des Nordirlandkonflikts, der vor Ort in typischem Understatement ›The Troubles‹ genannt wird, war die Grenze Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen. Heute wäre sie vor allem erst einmal absurd. Denn wenn eine Grenze käme, wäre sie eine, die eigentlich niemand will.
Blutige Geschichte
Nordirland ist ein wunderschöner Flecken Erde. Landstraßen durchschneiden satte grüne Wiesen, bei schlechtem Wetter legt sich Dunst über die zahlreichen Seen und hüllt die Landschaft in eine märchenhafte Atmosphäre. Knapp 1,8 Millionen Nordiren leben hier auf 13.800 Quadratkilometern, größenmäßig liegt das irgendwo zwischen Oberösterreich und der Steiermark. Es ist eine Region, in der alles furchtbar klein und weit gleichzeitig ist, deren Geschichte sich manchmal verdichtet und sich manchmal seltsam in die Länge zieht.
Die Geschichte des Nordirlandkonflikts ist im Groben schnell erzählt. In den 60er-Jahren bildete sich in Nordirland, damals wie heute ein Teil des Vereinigten Königreichs, eine friedliche Bürgerrechtsbewegung. Die republikanisch-katholische Minderheit war seit der Teilung Irlands im Jahr 1920 offener wie versteckter Diskriminierung ausgesetzt. Die Wahlbezirke waren auf die protestantisch-unionistischen Parteien zugeschnitten. Katholiken hatten kaum Zugang zum sozialen Wohnbau und stellten nur zwölf Prozent der Polizisten, obwohl sie rund ein Drittel der Bevölkerung bildeten. Mehrere Demonstrationen der katholisch dominierten, aber auch von vielen Protestanten mitgetragenen Bewegung wurden von Sicherheitskräften brutal niedergeknüppelt. Das ist der Hintergrund, vor dem die anfänglich hohe Unterstützung für die Irish-Republican Army (IRA) verständlicher wird.
Die Unruhen gingen Ende der 60er-Jahre in einen bewaffneten Konflikt über. Zwischen 1969 und 1998 übersäten irisch-republikanische Paramilitärs wie die IRA und royalistische Einheiten wie die Ulster Volunteer Force (UVF) Nordirland mit Gewalt. Der Konflikt schwappte immer wieder auch auf die britische Hauptinsel und nach Irland hinüber. In der jahrzehntelangen, blutigen Spirale wurden Menschen erschossen, gefoltert, von Bomben in Stücke gerissen. Ein tiefer, gewaltsamer Riss zog sich durch die nordirische Gesellschaft. In den
›Das ist verdammter Bullshit‹, sagt Brown. Niemand sei an einer harten Grenze interessiert.
90er-Jahren begann ein schwieriger Friedensprozess. Das Karfreitagsabkommen zwischen Großbritannien, Irland und den Parteien in Nordirland beendete den Konflikt 1998 mit einer politischen Lösung.
Natürlich ist in Wahrheit alles sehr viel komplizierter. Die ehemaligen Kämpfer der IRA weigerten sich lange, bei der Aufklärung des Aufenthaltsorts der ›verschwundenen‹ Opfer mitzuhelfen. Die letzten loyalistischen Paramilitärs gaben ihre Waffen erst im Jahr 2010 ab. Das Misstrauen gegenüber den protestantisch dominierten Sicherheitskräften blieb trotz Polizeireformen. Nordirland bleibt ein gespaltenes Land. Noch heute sind neun von zehn Vierteln mit sozialem Wohnbau zu 90 Prozent entweder von Katholiken oder von Protestanten bewohnt. Man bringt sich nicht mehr um. Das heißt aber nicht, dass man sich vertraut.
Sollte das Vereinigte Königreich die EU am 29. März unter einem No-Deal-Szenario verlassen, fände sich das Land – und damit Nordirland – außerhalb des Binnenmarkts und der Zollunion wieder. Waren müssten an der Grenze darauf überprüft werden, ob sie den EU-Standards entsprechen. Also auch an der Grenze zwischen Irland und Nordirland. Im Dezember 2017 einigten sich die EU und das Vereinigte Königreich darauf, dass es einen ›Backstop‹ geben müsse: einen Sicherheitsmechanismus, der auch im Fall, dass die Verhandlungen scheitern, eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland verhindern soll. Experten sind auch der Meinung, dass eine solche harte Grenze vielleicht nicht dem Text, aber zumindest dem Geist des Friedensabkommens widersprechen würde.
Viele der Diskussionen der vergangenen Monate drehten sich genau um diesen Backstop. Fast unbemerkt hatte sich das Thema zu einem Dreh- und Angelpunkt des Brexit entwickelt. In dem ›Withdrawal Agreement‹, auf das sich die britische Premierministerin Theresa May und die EU im November einigten, ist das Grenzprotokoll, das im Fall der Fälle in Kraft treten soll, genau geregelt. Grob gesagt beinhaltet die Vereinbarung folgende Regel: Sollte bis zum Ende der Übergangsperiode (spätestens 2022) keine andere Lösung gefunden werden, verbleibt Großbritannien in der Zollunion, Nordirland zusätzlich noch im Binnenmarkt, bis beide Seiten beschließen, dass es nicht mehr notwendig ist.
Diese Regelung machte niemanden so richtig glücklich: Die unionistische nordirische Partei DUP, Koalitionspartner der Torys, lehnt jede Sonderbehandlung Nordirlands ab – aus Angst, diese könnte langfristig zu einer Wiedervereinigung mit Irland führen. Die Hardcore-Brexiteers befürchten, dass die EU das gesamte Vereinigte Königreich damit prinzipiell auf ewig in der Zollunion halten könne. Und die meisten Remainer wollen wiederum dauerhaft zumindest Teil der Zollunion bleiben. Dass Theresa May am 14. Jänner mit ihrem Deal im britischen Unterhaus eine historische Niederlage erlitt, lag nicht nur am Backstop, aber eben auch.
Tiefe Narben
Nordirland ist voll von alten Wunden. Ein Ort, an dem man in einer Bar schon einmal neben einem Mann Fußball schauen kann, der psychisch leicht auffällig wirkt. Um dann später vom Barkeeper zu erfahren, dass dieser Mann als Teenager mit ansehen musste, wie die IRA seinen Eltern einen Waffenlauf in den Mund steckte. Die nordirische Gesellschaft ist eine traumatisierte, um deren psychische Schäden man sich lange nicht gekümmert hat. Während der Troubles starben mehr als 3.500 Menschen durch physische Gewalt. Die Zahl der Suizide in Nordirland seit Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens übersteigt diesen Wert mittlerweile. Schätzungsweise 500.000 Menschen leiden noch immer unter den psychischen Auswirkungen des Konflikts.
So wie Noel Downey, der sich selbst eigentlich als ›einer der Glücklichen‹ beschreibt. ›Ich sitze hier und kann meine Geschichte erzählen.‹ Noel Downey ist ein ruhiger, etwas grobschlächtiger Mann. Seine stark vernarbten Arme, die unter dem blauen Poloshirt hervorschauen, sind großflächig tätowiert.
Der Tag, der das Leben von Downey für immer verändert hat, ist der 10. Juni 1990. ›Ich habe heute noch Albträume davon‹, sagt er. Downey ist damals 27 und Soldat des Ulster Defense Regiments (UDR). Während er in einem Pub sitzt, platziert jemand eine Bombe unter seinem Auto, direkt unter dem Vordersitz. Die Explosion reißt ihm sein rechtes Bein ab, schleudert es ihm so ins Gesicht, dass er seine Vorderzähne verliert. Downey hatFotos von dem Tag. Eine breite Blutspur zieht sich von dem zerrissenen Wagen weg über die Straße.
Noel Downey will nicht schlecht über sein Leben nach der Bombe reden. Er weiß, dass es deutlich schlimmer hätte kommen können. Er trägt eine Prothese, man merkt ihm das beim Gehen kaum an. Heute ist er mit seiner Freundin von damals verheiratet und hat zwei Kinder. Und man hat den Mann, der ihn töten wollte, erwischt – eine große Ausnahme. Der Bombenleger wird damals verurteilt, kommt aber nach zwei Jahren wieder auf freien Fuß. Der Mann, der Downey töten wollte, der ihm sein Bein geraubt hat, lebt noch heute in derselben Stadt wie sein Opfer. Sie begegnen sich regelmäßig auf der Straße.
Die juristische Aufarbeitung des Nordirlandkonflikts ist unzureichend. Zahl-
Nordirland bleibt ein gespaltenes Land. Man bringt sich nicht mehr um. Das heißt aber nicht, dass man sich vertraut.
lose Morde und schwere Gewalttaten sind nicht aufgeklärt oder bleiben aufgrund von Amnestien ungesühnt. Die Schützen des ›Bloody Sunday‹, des 30. Jänners 1972, an dem die britische Armee 13 unbewaffnete Demonstranten erschoss, wurden bislang nicht zur Verantwortung gezogen. In Kürze wollen nordirische Staatsanwälte die Entscheidung fällen, ob sie Mordanklage gegen 17 ehemalige Fallschirmspringer erheben. Bei den Morden in South East Fermanagh gibt es eine Aufklärungsquote von mickrigen fünf Prozent. Weil niemand redet, bis heute nicht. Die Menschen leben mit den Mördern Tür an Tür.
An kaum einem Ort zeigen sich die verschiedenen Gesichter des Nordirlandkonflikts so deutlich wie in der zweitgrößten Stadt der Region, wo die Probleme bereits mit dem Namen beginnen. Offiziell heißt die Stadt, deren mittelalterlicher Kern auf einem Berg an einer Biegung des Flusses Foyle liegt, Londonderry. Doch noch heute ist schon Kilometer vor der Stadt das ›London‹ auf Straßenschildern mit Gaffer Tape überklebt. Für Republikaner heißt die Stadt, die Schauplatz des Bloody Sunday war, nur Derry. Sie steht, ob man sie nun Londonderry oder Derry nennt, für die schwierige Mischung aus Erinnerung, Folklore und realer sozialer Spannung, die viele ehemalige Konfliktgebiete kennzeichnet. Jährlich kommen tausende Touristen, um sich die ›Peace Walls‹, die katholische und protestantische Viertel trennen, und die IRA-verherrlichenden Zeichnungen an den Häuserwänden anschauen. Im IRA-Museum kann man Schlüsselanhänger und Kühlschrankmagneten kaufen. Auf einem großen Straßenschild werden die Tage heruntergezählt, die Ex-IRA-Mitglieder noch im Gefängnis sitzen müssen, und jedes Jahr im Juli kommt es rund um den Termin der Oraniermärsche der Protestanten zu Straßenschlachten.
Am 20. Januar dieses Jahres explodiert in der Stadt wieder eine Autobombe, zu der sich die ›Neue IRA‹ bekennt – eine Splittergruppe, die das Karfreitagsabkommen ablehnt. Zuvor gibt es eine telefonische Warnung, daher wird niemand verletzt. Aber es weckt die Erinnerung an eine Vergangenheit, die nie vollkommen vergangen ist.
Alte neue Gräben
Wer die Geschichte Nordirlands verstehen will, darf nicht erst in den 1960er-Jahren anfangen. Auch nicht 1919, als der Irische Bürgerkrieg begann, der letztlich zur Teilung der Insel führte. Sondern im frühen 17. Jahrhundert. Die Geschichte vieler Orte ist von Konflikten geprägt, aber nicht überall hat sie so weitreichende und langwierige Folgen wie in Nordirland.
Nach einer fehlgeschlagenen Revolte von katholischen Iren, die im Jahr 1603 beendet wurde, forcierte das Königreich England unter Jakob VI. die sogenannten ›Plantations‹, die Umsiedelung protestantischer Engländer, Schotten und Waliser nach Nordirland, teilweise unter Zwang. Die Gegensätze zwischen den Alteingesessenen und den Neuankömmlingen waren nicht nur religiöser Natur: Die Iren waren hauptsächlich Bauern, die Siedler vielfach wohlhabender und durch das erfolgreiche vorindustrielle Gewerbe auf der britischen Hauptinsel geprägt. Diese Wurzeln muss man sich vergegenwärtigen, auch um zu verstehen, warum man in Nordirland
selbst nicht von einem Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten, sondern zwischen ›Republicans‹ und ›Unionists‹ spricht. Der Nordirlandkonflikt wird gerne als religiöser Konflikt dargestellt, hat aber mindestens genauso sehr imperialistische-kolonialistische Wurzeln.
Zu den jahrhundertealten Gräben in der Gesellschaft Nordirlands sind inzwischen neue, subtilere gekommen. Etwa jener zwischen den Nordiren, welche die Troubles durchlebt haben, und den Nachgeborenen, die sie nur aus Erzählungen kennen. Wie der Barkeeper Andy in Enniskillen, einer pittoresken Kleinstadt nahe der irischen Grenze. Andy ist Ende 20. Wenn man ihn auf die Troubles anspricht, zuckt er mit den Schultern. Das sei halt alles lange her. ›Meine erste Freundin war Katholikin. Da habe ich Ärger mit meinem älteren Bruder bekommen.‹ Sonst habe das alles für sein Leben kaum noch Bedeutung.
Es gibt aber auch Menschen wie Margaret Veitch. Veitch ist eine eindrucksvolle, temperamentvolle Frau. Ihre grauen Haare sind sorgfältig frisiert, von ihrem Hals und den Handgelenken baumelt Silberschmuck. Bevor sie in Pension ging, hatte sie ein Bekleidungsgeschäft in Enniskillen. Sie ist freundlich und humorvoll. Doch es brennt noch immer in Margaret Veitch.
Veitch ist mit ihrem Mann Crawford im Jahr 1987 auf einer Reise in Südafrika. Währenddessen explodiert in Enniskillen eine Bombe der IRA. Es ist der ›Remembrance Day‹, an dem im Vereinigten Königreich der Mitglieder der Armee gedacht wird. Die Bombe gilt einer Militärparade, trifft aber vor allem Passanten. Als der Rauch abzieht, sind elf Menschen tot und 63 schwer verletzt, ein zwölftes Opfer liegt 13 Jahre im Koma. Das ›Remembrance Day Bombing‹ gilt heute als ein Wendepunkt in den Troubles. Auch Republikaner sind geschockt, die ohnehin schwindende Unterstützung für die Paramilitärs sinkt weiter.
Unter den Opfern der Bombe sind auch William und Agnes Mullan, Margaret Veitchs Eltern. Sie erfährt erst zwei Tage später davon. Überwunden hat sie es nie. ›Meine Eltern hatten nichts mit Politik zu tun‹, sagt Veitch. ›Meine Mutter war ein Engel, und sie hat so vieles nicht mehr erleben dürfen.‹ Veitch kann sich aufregen, schimpft dann wie ein Rohrspatz. Über die katholische Kirche, die jungen Leute, die sich kaum vorstellen können, was Leute wie sie durchgemacht haben. Über die Mitwisser, die noch immer nicht auspacken. Über Tony Blair, der den Frieden ermöglichte, indem er weitgehend auf Strafverfolgung verzichtete. Glaubt sie, dass sie ein Problem ist, weil sie nicht schweigen will? Veitchs Blick wird eisig, sie schiebt ihren Körper über den Tisch. ›Ich werde niemals schweigen.‹
Es gibt in Nordirland Leute, die vergessen wollen. Und es gibt eben auch Leute wie Margaret Veitch. Menschen, die sich verkauft fühlen. Jeder Frieden beinhaltet eine Form von Schlussstrich. Er ist damit ein Versprechen für die Zukunft und eine Zumutung für die Opfer. Sie sind Verhandlungsmasse auf dem Tisch der guten Sache. Die Frage ist nicht, ob das ungerecht ist. Sondern was die Alternative wäre.
Luftschlösser
Die Troubles sind heute ein kalter Konflikt, und ob der Brexit ihn wirklich wieder hochkochen lassen wird, ist fraglich. Was der Brexit auf jeden Fall bereits erreicht hat: ein Symbol für kollektives politisches Versagen zu liefern. Der Stand bei Druckschluss: Am 29. März wird ein Land mit 66 Millionen Menschen aus einer politischen Union austreten, in der es 46 Jahre lang Mitglied war, mit der es wirtschaftlich, institutionell und juristisch eng verbunden ist. Und aktuell weiß niemand, wie das exakt passieren wird. Schiffe, die kürzlich von der Insel abgelegt haben, wissen nicht, welches Zollregime gilt, wenn sie in Asien ankommen. Man muss das so ausschreiben, um sich der Absurdität der Situation bewusst zu werden.
Der Brexit ist ein kollektives Versagen, aber auch ein Versagen von Premierministerin Theresa May. Ihre Regierung malte über zweieinhalb Jahre positive Bilder an die Wand, ohne konkret darzulegen, welche Version des Austritts sie anstrebe. Stoisch wurde der Eindruck erweckt, man könne die Vorteile des freien Handels genießen, ohne dafür Souveränität aufzugeben – während Experten kontinuierlich und fast verzweifelt darauf verwiesen, dass das ein Luftschloss sei und man seine Zeit besser darauf verwenden solle, eine realistische Position auszuarbeiten.
Der Brexit gefährdet nicht nur die wirtschaftliche Lage des Landes, sondern lässt auch Diskussionen über die Einheit des Vereinigten Königreichs aufkommen, weil Schottland und Nordirland mehrheitlich für ›Remain‹ gestimmt haben. Ein hoher Preis für ein bisschen mehr nationale Identität.
Tatsächlich halten Beobachter die Wiedervereinigung zwischen Nordirland und Irland heute nicht mehr für so unrealistisch wie noch vor Jahren. Die demografische
Der Brexit lässt Diskussionen über die Einheit des Vereinigten Königreichs aufkommen. Ein hoher Preis für ein bisschen mehr nationale Identität.
Entwicklung hat die jahrhundertelange Übermacht der Protestanten zusammenschmelzen lassen, im Jahr 2011 stellten sie zum ersten Mal, seitdem es einen ernstzunehmenden Zensus gibt, nicht mehr die absolute Mehrheit. Wie eine Abstimmung im Konkreten ausgehen würde, kann niemand genau sagen. Nordirland ist eine arme Region, Großbritannien unterstützt sie mit jährlich zehn Milliarden Pfund. Selbst die optimistischen Republikaner sagen: Es wäre ein langer Weg.
Die politische Klasse Großbritanniens hat sich jedenfalls verrannt, eingekesselt zwischen einer legitimen Entscheidung des Souveräns, dem politisch Möglichen und dem Unwillen, unbequeme Wahrheiten auszusprechen und die Konsequenzen dafür zu tragen. Und so wurschtelt man sich weiter durch. Erst Anfang Februar diesen Jahres kam es wieder zu der bizarren Situation, dass die Parlamentarier sich im House of Commons nach Stunden auf Nachforderungen einigten, die das Gegenüber EU bereits im Vorfeld abgelehnt hatte. Im Zuge dieser Abstimmung votierte Premierministerin May gegen den Deal, den sie selbst zweieinhalb Monate zuvor ausgehandelt hatte.
Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rats, fragte zuletzt öffentlich, wie wohl der ›spezielle Platz in der Hölle‹ für diejenigen aussehe, die den Brexit betrieben haben, ohne jeden Plan, wie er eigentlich zu vollziehen sei. Die Bewohner Nordirlands sind bereits einmal durch die Hölle gegangen. Bleibt zu hoffen, dass sie es nicht noch einmal tun müssen. •