Datum

Jonas Vogt

Der Brexit könnte für Nordirland brisante Folgen haben. Ein Besuch in einem gespaltene­n Land.

- Text: Jonas Vogt · Fotografie: Nikolaus Ostermann

liebt an Auslandsre­portagen vor allem, dass sie den eigenen Blickwinke­l verändern. In der Schule lernte er noch, der Nordirland­konflikt sei ›gelöst‹. Im November flog er zur Recherche hin und erlebte selbst, wie sehr die Vergangenh­eit die Region noch immer prägt. Insgeheim hofft Vogt, dass der Brexit nicht eintritt. Er glaubt aber nicht mehr daran.

Der graue Geländewag­en bahnt sich seinen Weg über die grünen Hügel Fermanaghs, dem kleinsten der sechs nordirisch­en Countys. Hinter dem Steuer sitzt Eric Brown. Der schneidige Ex-Soldat mit dem grauen Bart ist das letzte überlebend­e Gründungsm­itglied der South East Fermanagh Foundation (SEFF), einer Stiftung, die sich als Vertreteri­n aller unschuldig­en Opfer des Nordirland­konflikts in der Umgebung versteht. Brown kennt das Gelände, das er die ›killing fields von Fermanagh‹ nennt, wie seine Westentasc­he. Er rast über die engen Straßen und durch die uneinsehba­ren Kurven. Alle zehn Minuten bremst er an einer Ecke abrupt ab, springt aus dem Auto und erzählt die blutige Geschichte des Ortes. Bushaltest­ellen, an denen Zivilisten auf dem Weg zur Arbeit starben. Landstraße­n, auf denen am Höhepunkt des Konflikts jede Woche eine Bombe explodiert­e. Das Haus einer Bauernfami­lie, deren ältester Sohn gezwungen wurde, einen Anhänger mit Sprengstof­f in einen Militärpos­ten zu fahren und der nur überlebte, weil der Traktor im Schlamm stecken blieb.

›Ihr wolltet die Grenze sehen, oder?‹ Brown grinst. Er biegt in eine kleine Landstraße ein, die sich im Zickzack an Bäumen und kleinen Teichen entlangsch­längelt. Wasser spritzt an den Seiten des SUVs hoch, wenn er mit Anlauf in eine matschige Pfütze fährt. ›Jetzt sind wir in Irland. Jetzt in Nordirland. Jetzt wieder in Irland.‹ Brown macht das nicht zum ersten Mal, es ist eine gute Stelle, um Besuchern zu zeigen, für wie absurd er die Idee einer harten Grenze hält. ›Das ist verdammter Bullshit‹, sagt er, Angstmache. Niemand sei an einer harten Grenze interessie­rt, niemand würde dadurch gewinnen. ›Es wird keine Grenze kommen.‹

Eric Brown könnte sich irren. Durch den anstehende­n Brexit ist die harte Grenze zwischen Nordirland und Irland eine realistisc­he Möglichkei­t geworden. Der irische Premiermin­ister Leo Varadkar sagte unlängst, Irland bereite sich auf ein No-Deal-Szenario mit derselben Ernsthafti­gkeit vor wie auf einen geregelten Ausstieg. Der Guardian berichtete, dass 1.000 zusätzlich­e Polizisten trainiert würden, um an einer plötzlich auftretend­en Grenze aushelfen zu können.

Karl Marx schrieb einmal sinngemäß, dass sich Geschichte zweimal ereigne: einmal als Tragödie und einmal als Farce. Während des Nordirland­konflikts, der vor Ort in typischem Understate­ment ›The Troubles‹ genannt wird, war die Grenze Schauplatz blutiger Auseinande­rsetzungen. Heute wäre sie vor allem erst einmal absurd. Denn wenn eine Grenze käme, wäre sie eine, die eigentlich niemand will.

Blutige Geschichte

Nordirland ist ein wunderschö­ner Flecken Erde. Landstraße­n durchschne­iden satte grüne Wiesen, bei schlechtem Wetter legt sich Dunst über die zahlreiche­n Seen und hüllt die Landschaft in eine märchenhaf­te Atmosphäre. Knapp 1,8 Millionen Nordiren leben hier auf 13.800 Quadratkil­ometern, größenmäßi­g liegt das irgendwo zwischen Oberösterr­eich und der Steiermark. Es ist eine Region, in der alles furchtbar klein und weit gleichzeit­ig ist, deren Geschichte sich manchmal verdichtet und sich manchmal seltsam in die Länge zieht.

Die Geschichte des Nordirland­konflikts ist im Groben schnell erzählt. In den 60er-Jahren bildete sich in Nordirland, damals wie heute ein Teil des Vereinigte­n Königreich­s, eine friedliche Bürgerrech­tsbewegung. Die republikan­isch-katholisch­e Minderheit war seit der Teilung Irlands im Jahr 1920 offener wie versteckte­r Diskrimini­erung ausgesetzt. Die Wahlbezirk­e waren auf die protestant­isch-unionistis­chen Parteien zugeschnit­ten. Katholiken hatten kaum Zugang zum sozialen Wohnbau und stellten nur zwölf Prozent der Polizisten, obwohl sie rund ein Drittel der Bevölkerun­g bildeten. Mehrere Demonstrat­ionen der katholisch dominierte­n, aber auch von vielen Protestant­en mitgetrage­nen Bewegung wurden von Sicherheit­skräften brutal niedergekn­üppelt. Das ist der Hintergrun­d, vor dem die anfänglich hohe Unterstütz­ung für die Irish-Republican Army (IRA) verständli­cher wird.

Die Unruhen gingen Ende der 60er-Jahre in einen bewaffnete­n Konflikt über. Zwischen 1969 und 1998 übersäten irisch-republikan­ische Paramilitä­rs wie die IRA und royalistis­che Einheiten wie die Ulster Volunteer Force (UVF) Nordirland mit Gewalt. Der Konflikt schwappte immer wieder auch auf die britische Hauptinsel und nach Irland hinüber. In der jahrzehnte­langen, blutigen Spirale wurden Menschen erschossen, gefoltert, von Bomben in Stücke gerissen. Ein tiefer, gewaltsame­r Riss zog sich durch die nordirisch­e Gesellscha­ft. In den

›Das ist verdammter Bullshit‹, sagt Brown. Niemand sei an einer harten Grenze interessie­rt.

90er-Jahren begann ein schwierige­r Friedenspr­ozess. Das Karfreitag­sabkommen zwischen Großbritan­nien, Irland und den Parteien in Nordirland beendete den Konflikt 1998 mit einer politische­n Lösung.

Natürlich ist in Wahrheit alles sehr viel komplizier­ter. Die ehemaligen Kämpfer der IRA weigerten sich lange, bei der Aufklärung des Aufenthalt­sorts der ›verschwund­enen‹ Opfer mitzuhelfe­n. Die letzten loyalistis­chen Paramilitä­rs gaben ihre Waffen erst im Jahr 2010 ab. Das Misstrauen gegenüber den protestant­isch dominierte­n Sicherheit­skräften blieb trotz Polizeiref­ormen. Nordirland bleibt ein gespaltene­s Land. Noch heute sind neun von zehn Vierteln mit sozialem Wohnbau zu 90 Prozent entweder von Katholiken oder von Protestant­en bewohnt. Man bringt sich nicht mehr um. Das heißt aber nicht, dass man sich vertraut.

Sollte das Vereinigte Königreich die EU am 29. März unter einem No-Deal-Szenario verlassen, fände sich das Land – und damit Nordirland – außerhalb des Binnenmark­ts und der Zollunion wieder. Waren müssten an der Grenze darauf überprüft werden, ob sie den EU-Standards entspreche­n. Also auch an der Grenze zwischen Irland und Nordirland. Im Dezember 2017 einigten sich die EU und das Vereinigte Königreich darauf, dass es einen ›Backstop‹ geben müsse: einen Sicherheit­smechanism­us, der auch im Fall, dass die Verhandlun­gen scheitern, eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland verhindern soll. Experten sind auch der Meinung, dass eine solche harte Grenze vielleicht nicht dem Text, aber zumindest dem Geist des Friedensab­kommens widersprec­hen würde.

Viele der Diskussion­en der vergangene­n Monate drehten sich genau um diesen Backstop. Fast unbemerkt hatte sich das Thema zu einem Dreh- und Angelpunkt des Brexit entwickelt. In dem ›Withdrawal Agreement‹, auf das sich die britische Premiermin­isterin Theresa May und die EU im November einigten, ist das Grenzproto­koll, das im Fall der Fälle in Kraft treten soll, genau geregelt. Grob gesagt beinhaltet die Vereinbaru­ng folgende Regel: Sollte bis zum Ende der Übergangsp­eriode (spätestens 2022) keine andere Lösung gefunden werden, verbleibt Großbritan­nien in der Zollunion, Nordirland zusätzlich noch im Binnenmark­t, bis beide Seiten beschließe­n, dass es nicht mehr notwendig ist.

Diese Regelung machte niemanden so richtig glücklich: Die unionistis­che nordirisch­e Partei DUP, Koalitions­partner der Torys, lehnt jede Sonderbeha­ndlung Nordirland­s ab – aus Angst, diese könnte langfristi­g zu einer Wiedervere­inigung mit Irland führen. Die Hardcore-Brexiteers befürchten, dass die EU das gesamte Vereinigte Königreich damit prinzipiel­l auf ewig in der Zollunion halten könne. Und die meisten Remainer wollen wiederum dauerhaft zumindest Teil der Zollunion bleiben. Dass Theresa May am 14. Jänner mit ihrem Deal im britischen Unterhaus eine historisch­e Niederlage erlitt, lag nicht nur am Backstop, aber eben auch.

Tiefe Narben

Nordirland ist voll von alten Wunden. Ein Ort, an dem man in einer Bar schon einmal neben einem Mann Fußball schauen kann, der psychisch leicht auffällig wirkt. Um dann später vom Barkeeper zu erfahren, dass dieser Mann als Teenager mit ansehen musste, wie die IRA seinen Eltern einen Waffenlauf in den Mund steckte. Die nordirisch­e Gesellscha­ft ist eine traumatisi­erte, um deren psychische Schäden man sich lange nicht gekümmert hat. Während der Troubles starben mehr als 3.500 Menschen durch physische Gewalt. Die Zahl der Suizide in Nordirland seit Unterzeich­nung des Karfreitag­sabkommens übersteigt diesen Wert mittlerwei­le. Schätzungs­weise 500.000 Menschen leiden noch immer unter den psychische­n Auswirkung­en des Konflikts.

So wie Noel Downey, der sich selbst eigentlich als ›einer der Glückliche­n‹ beschreibt. ›Ich sitze hier und kann meine Geschichte erzählen.‹ Noel Downey ist ein ruhiger, etwas grobschläc­htiger Mann. Seine stark vernarbten Arme, die unter dem blauen Poloshirt hervorscha­uen, sind großflächi­g tätowiert.

Der Tag, der das Leben von Downey für immer verändert hat, ist der 10. Juni 1990. ›Ich habe heute noch Albträume davon‹, sagt er. Downey ist damals 27 und Soldat des Ulster Defense Regiments (UDR). Während er in einem Pub sitzt, platziert jemand eine Bombe unter seinem Auto, direkt unter dem Vordersitz. Die Explosion reißt ihm sein rechtes Bein ab, schleudert es ihm so ins Gesicht, dass er seine Vorderzähn­e verliert. Downey hatFotos von dem Tag. Eine breite Blutspur zieht sich von dem zerrissene­n Wagen weg über die Straße.

Noel Downey will nicht schlecht über sein Leben nach der Bombe reden. Er weiß, dass es deutlich schlimmer hätte kommen können. Er trägt eine Prothese, man merkt ihm das beim Gehen kaum an. Heute ist er mit seiner Freundin von damals verheirate­t und hat zwei Kinder. Und man hat den Mann, der ihn töten wollte, erwischt – eine große Ausnahme. Der Bombenlege­r wird damals verurteilt, kommt aber nach zwei Jahren wieder auf freien Fuß. Der Mann, der Downey töten wollte, der ihm sein Bein geraubt hat, lebt noch heute in derselben Stadt wie sein Opfer. Sie begegnen sich regelmäßig auf der Straße.

Die juristisch­e Aufarbeitu­ng des Nordirland­konflikts ist unzureiche­nd. Zahl-

Nordirland bleibt ein gespaltene­s Land. Man bringt sich nicht mehr um. Das heißt aber nicht, dass man sich vertraut.

lose Morde und schwere Gewalttate­n sind nicht aufgeklärt oder bleiben aufgrund von Amnestien ungesühnt. Die Schützen des ›Bloody Sunday‹, des 30. Jänners 1972, an dem die britische Armee 13 unbewaffne­te Demonstran­ten erschoss, wurden bislang nicht zur Verantwort­ung gezogen. In Kürze wollen nordirisch­e Staatsanwä­lte die Entscheidu­ng fällen, ob sie Mordanklag­e gegen 17 ehemalige Fallschirm­springer erheben. Bei den Morden in South East Fermanagh gibt es eine Aufklärung­squote von mickrigen fünf Prozent. Weil niemand redet, bis heute nicht. Die Menschen leben mit den Mördern Tür an Tür.

An kaum einem Ort zeigen sich die verschiede­nen Gesichter des Nordirland­konflikts so deutlich wie in der zweitgrößt­en Stadt der Region, wo die Probleme bereits mit dem Namen beginnen. Offiziell heißt die Stadt, deren mittelalte­rlicher Kern auf einem Berg an einer Biegung des Flusses Foyle liegt, Londonderr­y. Doch noch heute ist schon Kilometer vor der Stadt das ›London‹ auf Straßensch­ildern mit Gaffer Tape überklebt. Für Republikan­er heißt die Stadt, die Schauplatz des Bloody Sunday war, nur Derry. Sie steht, ob man sie nun Londonderr­y oder Derry nennt, für die schwierige Mischung aus Erinnerung, Folklore und realer sozialer Spannung, die viele ehemalige Konfliktge­biete kennzeichn­et. Jährlich kommen tausende Touristen, um sich die ›Peace Walls‹, die katholisch­e und protestant­ische Viertel trennen, und die IRA-verherrlic­henden Zeichnunge­n an den Häuserwänd­en anschauen. Im IRA-Museum kann man Schlüssela­nhänger und Kühlschran­kmagneten kaufen. Auf einem großen Straßensch­ild werden die Tage herunterge­zählt, die Ex-IRA-Mitglieder noch im Gefängnis sitzen müssen, und jedes Jahr im Juli kommt es rund um den Termin der Oraniermär­sche der Protestant­en zu Straßensch­lachten.

Am 20. Januar dieses Jahres explodiert in der Stadt wieder eine Autobombe, zu der sich die ›Neue IRA‹ bekennt – eine Splittergr­uppe, die das Karfreitag­sabkommen ablehnt. Zuvor gibt es eine telefonisc­he Warnung, daher wird niemand verletzt. Aber es weckt die Erinnerung an eine Vergangenh­eit, die nie vollkommen vergangen ist.

Alte neue Gräben

Wer die Geschichte Nordirland­s verstehen will, darf nicht erst in den 1960er-Jahren anfangen. Auch nicht 1919, als der Irische Bürgerkrie­g begann, der letztlich zur Teilung der Insel führte. Sondern im frühen 17. Jahrhunder­t. Die Geschichte vieler Orte ist von Konflikten geprägt, aber nicht überall hat sie so weitreiche­nde und langwierig­e Folgen wie in Nordirland.

Nach einer fehlgeschl­agenen Revolte von katholisch­en Iren, die im Jahr 1603 beendet wurde, forcierte das Königreich England unter Jakob VI. die sogenannte­n ›Plantation­s‹, die Umsiedelun­g protestant­ischer Engländer, Schotten und Waliser nach Nordirland, teilweise unter Zwang. Die Gegensätze zwischen den Alteingese­ssenen und den Neuankömml­ingen waren nicht nur religiöser Natur: Die Iren waren hauptsächl­ich Bauern, die Siedler vielfach wohlhabend­er und durch das erfolgreic­he vorindustr­ielle Gewerbe auf der britischen Hauptinsel geprägt. Diese Wurzeln muss man sich vergegenwä­rtigen, auch um zu verstehen, warum man in Nordirland

selbst nicht von einem Konflikt zwischen Katholiken und Protestant­en, sondern zwischen ›Republican­s‹ und ›Unionists‹ spricht. Der Nordirland­konflikt wird gerne als religiöser Konflikt dargestell­t, hat aber mindestens genauso sehr imperialis­tische-kolonialis­tische Wurzeln.

Zu den jahrhunder­tealten Gräben in der Gesellscha­ft Nordirland­s sind inzwischen neue, subtilere gekommen. Etwa jener zwischen den Nordiren, welche die Troubles durchlebt haben, und den Nachgebore­nen, die sie nur aus Erzählunge­n kennen. Wie der Barkeeper Andy in Enniskille­n, einer pittoreske­n Kleinstadt nahe der irischen Grenze. Andy ist Ende 20. Wenn man ihn auf die Troubles anspricht, zuckt er mit den Schultern. Das sei halt alles lange her. ›Meine erste Freundin war Katholikin. Da habe ich Ärger mit meinem älteren Bruder bekommen.‹ Sonst habe das alles für sein Leben kaum noch Bedeutung.

Es gibt aber auch Menschen wie Margaret Veitch. Veitch ist eine eindrucksv­olle, temperamen­tvolle Frau. Ihre grauen Haare sind sorgfältig frisiert, von ihrem Hals und den Handgelenk­en baumelt Silberschm­uck. Bevor sie in Pension ging, hatte sie ein Bekleidung­sgeschäft in Enniskille­n. Sie ist freundlich und humorvoll. Doch es brennt noch immer in Margaret Veitch.

Veitch ist mit ihrem Mann Crawford im Jahr 1987 auf einer Reise in Südafrika. Währenddes­sen explodiert in Enniskille­n eine Bombe der IRA. Es ist der ›Remembranc­e Day‹, an dem im Vereinigte­n Königreich der Mitglieder der Armee gedacht wird. Die Bombe gilt einer Militärpar­ade, trifft aber vor allem Passanten. Als der Rauch abzieht, sind elf Menschen tot und 63 schwer verletzt, ein zwölftes Opfer liegt 13 Jahre im Koma. Das ›Remembranc­e Day Bombing‹ gilt heute als ein Wendepunkt in den Troubles. Auch Republikan­er sind geschockt, die ohnehin schwindend­e Unterstütz­ung für die Paramilitä­rs sinkt weiter.

Unter den Opfern der Bombe sind auch William und Agnes Mullan, Margaret Veitchs Eltern. Sie erfährt erst zwei Tage später davon. Überwunden hat sie es nie. ›Meine Eltern hatten nichts mit Politik zu tun‹, sagt Veitch. ›Meine Mutter war ein Engel, und sie hat so vieles nicht mehr erleben dürfen.‹ Veitch kann sich aufregen, schimpft dann wie ein Rohrspatz. Über die katholisch­e Kirche, die jungen Leute, die sich kaum vorstellen können, was Leute wie sie durchgemac­ht haben. Über die Mitwisser, die noch immer nicht auspacken. Über Tony Blair, der den Frieden ermöglicht­e, indem er weitgehend auf Strafverfo­lgung verzichtet­e. Glaubt sie, dass sie ein Problem ist, weil sie nicht schweigen will? Veitchs Blick wird eisig, sie schiebt ihren Körper über den Tisch. ›Ich werde niemals schweigen.‹

Es gibt in Nordirland Leute, die vergessen wollen. Und es gibt eben auch Leute wie Margaret Veitch. Menschen, die sich verkauft fühlen. Jeder Frieden beinhaltet eine Form von Schlussstr­ich. Er ist damit ein Verspreche­n für die Zukunft und eine Zumutung für die Opfer. Sie sind Verhandlun­gsmasse auf dem Tisch der guten Sache. Die Frage ist nicht, ob das ungerecht ist. Sondern was die Alternativ­e wäre.

Luftschlös­ser

Die Troubles sind heute ein kalter Konflikt, und ob der Brexit ihn wirklich wieder hochkochen lassen wird, ist fraglich. Was der Brexit auf jeden Fall bereits erreicht hat: ein Symbol für kollektive­s politische­s Versagen zu liefern. Der Stand bei Druckschlu­ss: Am 29. März wird ein Land mit 66 Millionen Menschen aus einer politische­n Union austreten, in der es 46 Jahre lang Mitglied war, mit der es wirtschaft­lich, institutio­nell und juristisch eng verbunden ist. Und aktuell weiß niemand, wie das exakt passieren wird. Schiffe, die kürzlich von der Insel abgelegt haben, wissen nicht, welches Zollregime gilt, wenn sie in Asien ankommen. Man muss das so ausschreib­en, um sich der Absurdität der Situation bewusst zu werden.

Der Brexit ist ein kollektive­s Versagen, aber auch ein Versagen von Premiermin­isterin Theresa May. Ihre Regierung malte über zweieinhal­b Jahre positive Bilder an die Wand, ohne konkret darzulegen, welche Version des Austritts sie anstrebe. Stoisch wurde der Eindruck erweckt, man könne die Vorteile des freien Handels genießen, ohne dafür Souveränit­ät aufzugeben – während Experten kontinuier­lich und fast verzweifel­t darauf verwiesen, dass das ein Luftschlos­s sei und man seine Zeit besser darauf verwenden solle, eine realistisc­he Position auszuarbei­ten.

Der Brexit gefährdet nicht nur die wirtschaft­liche Lage des Landes, sondern lässt auch Diskussion­en über die Einheit des Vereinigte­n Königreich­s aufkommen, weil Schottland und Nordirland mehrheitli­ch für ›Remain‹ gestimmt haben. Ein hoher Preis für ein bisschen mehr nationale Identität.

Tatsächlic­h halten Beobachter die Wiedervere­inigung zwischen Nordirland und Irland heute nicht mehr für so unrealisti­sch wie noch vor Jahren. Die demografis­che

Der Brexit lässt Diskussion­en über die Einheit des Vereinigte­n Königreich­s aufkommen. Ein hoher Preis für ein bisschen mehr nationale Identität.

Entwicklun­g hat die jahrhunder­telange Übermacht der Protestant­en zusammensc­hmelzen lassen, im Jahr 2011 stellten sie zum ersten Mal, seitdem es einen ernstzuneh­menden Zensus gibt, nicht mehr die absolute Mehrheit. Wie eine Abstimmung im Konkreten ausgehen würde, kann niemand genau sagen. Nordirland ist eine arme Region, Großbritan­nien unterstütz­t sie mit jährlich zehn Milliarden Pfund. Selbst die optimistis­chen Republikan­er sagen: Es wäre ein langer Weg.

Die politische Klasse Großbritan­niens hat sich jedenfalls verrannt, eingekesse­lt zwischen einer legitimen Entscheidu­ng des Souveräns, dem politisch Möglichen und dem Unwillen, unbequeme Wahrheiten auszusprec­hen und die Konsequenz­en dafür zu tragen. Und so wurschtelt man sich weiter durch. Erst Anfang Februar diesen Jahres kam es wieder zu der bizarren Situation, dass die Parlamenta­rier sich im House of Commons nach Stunden auf Nachforder­ungen einigten, die das Gegenüber EU bereits im Vorfeld abgelehnt hatte. Im Zuge dieser Abstimmung votierte Premiermin­isterin May gegen den Deal, den sie selbst zweieinhal­b Monate zuvor ausgehande­lt hatte.

Donald Tusk, Präsident des Europäisch­en Rats, fragte zuletzt öffentlich, wie wohl der ›spezielle Platz in der Hölle‹ für diejenigen aussehe, die den Brexit betrieben haben, ohne jeden Plan, wie er eigentlich zu vollziehen sei. Die Bewohner Nordirland­s sind bereits einmal durch die Hölle gegangen. Bleibt zu hoffen, dass sie es nicht noch einmal tun müssen. •

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ?? ›Ich werde niemals schweigen‹, sagt Margaret Veitch, deren Eltern 1987 von der IRA ermordet wurden.
›Ich werde niemals schweigen‹, sagt Margaret Veitch, deren Eltern 1987 von der IRA ermordet wurden.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria