Zu Tode bestraft - Sanktionen lassen Frauen früher sterben
Es war ein ungewöhnlicher Tweet auf der Nachrichtenplattform Twitter im November 2018. Irans Außenminister Mohammad Javad Zarif veröffentlichte Screenshots von vier E-Mails von Pharmaunternehmen, in denen sie ihre präventive Kündigung ihrer Verträge mit dem Iran aufgrund der Sanktionen ankündigten.
Roquette, ein französischer Hersteller von Stärke für medizinische Zwecke, teilte mit, jeglichen Handel und Verkauf mit dem Iran einzustellen. Die Entscheidung sei das Ergebnis „der jüngsten Ankündigung der Vereinigten Staaten von Amerika, die, wenn sie von uns ignoriert wird, unsere US-Aktivitäten voraussichtlich beeinträchtigen wird.“Ähnliche Schriftstücke schickten auch weitere Pharmaunternehmen.
Wegen der US-Sanktionen ist der Iran kaum noch in der Lage, humanitäre Importe, darunter auch Medikamente,
zu finanzieren. „Das stellt die iranische Bevölkerung vor große Probleme“, sagt ein Sprecher der Hilfsorganisation Human Rights Watch (HRW) zur „Presse am Sonntag“. Am stärksten seien Iraner mit seltenen Krankheiten betroffen. Dazu zählen Patienten mit Leukämie und chronischen Augenkrankheiten, die von chemischen Kampfstoffen im IranIrak-Krieg verursacht wurden. Kinder mit Epilepsie würden häufiger unkontrollierte Anfälle erleiden, die zu Hirnschäden führen können.
Konzerne gehorchen zu schnell. Laut einem Bericht von HRW hätten Banken und Pharmazieunternehmen „übervorsichtig und in vorauseilendem Gehorsam“gehandelt. Europäische Unternehmen weigern sich trotz humanitärer Ausnahmen, Spezialverbände zu verkaufen. Auch Banken lehnten es ab, Geldverkehr für humanitäre Güter mit dem Iran zu genehmigen. Laut dem iranischen Gesundheitsministerium werden 70 Prozent der medizinischen Ausstattung importiert. Dabei handelt es sich auch um Krankenbetten und elektronische Untersuchungsgeräte. Zwar sind humanitäre Importe von den Sanktionen ausgenommen, aber diese Ausnahmen erweisen sich in der Praxis als wirkungslos. „Wegen des lückenlosen Sanktionsnetzes der USA nehmen
Banken und Unternehmen auch vom humanitären Handel mit dem Iran Abstand“, sagt Sarah Leah Whitson, Leiterin der Abteilung Naher Osten bei HRW.
Instex ist Schlupfloch. Seit die US-Regierung im Mai 2018 offiziell aus dem internationalen Atomabkommen ausstieg, reaktivierte sie zuvor ausgesetzte Wirtschaftssanktionen, unter anderem auf den Öl-Export. „Die amerikanische Regierung sollte endlich das Leid anerkennen, dass sie durch ihr grausames Sanktionsregime verursacht hat“, so Whitson. In dem Atomabkommen hatte sich der Iran 2015 verpflichtet, sein Nuklearprogramm so zu gestalten, dass er keine Atombomben bauen kann. Im Gegenzug sollten Sanktionen aufgehoben und der Handel vorangetrieben werden. Im Mai 2018 zogen sich die USA aus dem Vertrag zurück und verhängten neue Sanktionen. Ein Jahr später begann auch der Iran, sich schrittweise von seinen Verpflichtungen aus dem Abkommen zu entfernen. Das Atomabkommen war damit insgesamt ins Wanken geraten.
Mit Instex versucht Europa, es aufrechtzuerhalten. Die Tauschbörse wurde 2019 ins Leben gerufen, sie soll trotz der Sanktionen zumindest einen eingeschränkten Handel mit der Islamischen Republik möglich machen. Über die Zweckgesellschaft kann nun der Zahlungsverkehr bei Iran-Geschäften abgewickelt werden, wenn sich private Banken wegen drohender US-Strafen dazu nicht mehr bereit erklären. Instex fungiert also quasi als Schutzschirm für den Handel zwischen Europa und dem Iran. Nun kündigte US-Präsident Joe Biden eine Abkehr der Politik des „maximalen Drucks“gegen Teheran an.
„Unter dem Strich kosten Sanktionen Menschenleben“, sagt Jerg Gutmann, Professor an der Rechtsfakultät der Universität Hamburg, zur „Presse am Sonntag“. Er hat die Auswirkungen wirtschaftlicher Sanktionen der Vereinten Nationen und der USA auf die Lebenserwartung und die Kluft zwischen den Geschlechtern analysiert. Sanktionen können zwar schmerzhafte Konsequenzen für die Wirtschaftseliten eines Landes haben, aber es scheint in erster Linie das Einkommen der schutzbedürftigeren Mitglieder der Gesellschaft zu sein, das durch Sanktionen verletzt werde, heißt es in der Studie, die Gutmann mit seinen Kollegen Matthias Neuenkirch und Florian Neumeier veröffentlicht hat. Demnach verringern Sanktionen die Lebenserwartung von
Frauen um etwa 1,2 bis 1,4 Jahre während einer anhaltenden Sanktionsphase der Vereinten Nationen. Der entsprechende Rückgang von 0,4 bis 0,5 Jahren unter US-Sanktionen ist geringer. Sanktionen seien nicht „geschlechtsblind“, sagt der Ökonom. „Frauen sind von Sanktionen stärker betroffen.“Man könne die Strafmaßnahmen mit gesellschaftlichen Schocks wie gewaltsamen Konflikten oder Naturkatastrophen vergleichen. Auch von denen seien Frauen stärker betroffen als Männer. Frauen hätten schlechtere Sicherungsmechanismen. Auch biologische Unterschiede könnten eine Rolle spielen, erklärt Gutmann.
Aber es gibt auch eine positive Seite. Die starken archaischen Strukturen brechen auf. In der wirtschaftlichen Not kann man nicht auf das Einkommen der Frauen verzichten. Somit bekommen sie Zugang zu Berufen
Wirtschaftliche Strafmaßnahmen beeinflussen die Gesundheit der Menschen in den betroffenen Ländern erheblich – vor allem von Frauen. Doch es gibt auch mögliche positive Auswirkungen: Frauenrechte könnten sich unter Umständen verbessern.
Banken und Pharmakonzerne handeln »in vorauseilendem Gehorsam«. »Unter dem Strich kosten Wirtschaftssanktionen Menschenleben.«
und gesellschaftlichen Bereichen, die ihnen sonst verwehrt bleiben. Zuvor beschränkte sich ihr Wirken oft auf häusliche Tätigkeiten. Zwar fordert die Doppelbelastung von Kinderbetreuung und schwerer Arbeit ihren Tribut, gibt ihnen aber immerhin mehr Rechte in der Gesellschaft. Aber man könne das nicht überbewerten. Es sei fraglich, dass sich solche Strukturen auch nach Sanktionen festigen.
Wie weit darf man gehen? Die Legitimität sei eine politische Abwägung, sagt der Ökonom. „Man nutzt Sanktionen, weil man sonst nichts anderes hat.“Die Instrumente, die zwischen politischen Argumenten und militärischer Eskalation zur Verfügung stehen, seien überschaubar.
Inwiefern Sanktionen gegenüber den Opfern verhältnismäßig sind, sei schwer zu beantworten. Man wisse nicht, wie sich Regime ohne Sanktionen gegenüber ihren Einwohnern verhalten würden. Aber man verfeinert die Instrumente. Gezielte Sanktionen wie z. B. das Einfrieren von Bankkonten der Eliten, haben milde Konsequenzen für die Bevölkerung.
Oft stehe der Symbolcharakter im Zentrum, auch wenn die Maßnahmen ohne Resultat bleiben. Man denke nur als die westlichen Reaktionen auf die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China 1989 und heute.