Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Ulm fühlen, hören und riechen
Seine Erinnerung an die Stadt erblasst – doch der blinde Stadtführer Hartmut Dorow kann Touristen helfen, die Straßen, Plätze und Parks mit allen Sinnen zu begreifen
(lsw) - Wenn Hartmut Dorow Sehende durch sein Ulm führt, stellt er traurig fest, wie wenig Zeit die Menschen sich für die Wahrnehmung ihrer Umgebung nehmen. Mit elf Jahren erblindete er, heute lässt er Teilnehmer seines Projekts „Ulm feeling“die Stadt fühlen, hören und riechen. „Meine Vorstellung von Ulm verblasst so langsam“, sagt der 67-Jährige. „Wenn ich heute vom Münster träume, träume ich bereits nur noch, wie’s sich anfühlt.“Er tastet auf einem bronzenen Stadtmodell die imposante Kirche ab, die den Mittelpunkt der Abbildung Ulms darstellt.
Seit 30 Jahren lässt Dorow Blinde seine geliebte Stadt be-greifen und spüren, Sehende buchen seine Führungen seit einiger Zeit ebenso. Der verheiratete Vater von drei erwachsenen Kindern ist einer der engagiertesten Bürger in Ulm. Der ehemalige Rechtspfleger ist in mehreren Vereinen aktiv, unter anderem in Ulms Blindenverband , den er 30 Jahre lang ehrenamtlich leitete.
Jeden letzten Donnerstag der Sommermonate beginnt Dorow seinen Altstadtrundgang am Ulmer Stadtmodell neben dem Münster. „Manchmal sind es 15, 20 Touristen, oder auch mal nur 5“, sagt er er. Dieses Mal ist niemand angemeldet, doch binnen weniger Minuten versammlen sich Passanten und lauschen den Worten des Blinden. „Ich möchte den sehenden Menschen nahebringen, wie sich die Stadt für einen Blinden anfühlt, wie er sie begreift, wie er sich zurechtfindet.“
Weiter geht es mit dem tastenden Finger vom Münster zur Stadtmauer. Die wichtigsten Stationen Ulms sind durch die eingelassene Blindenschrift, entwickelt 1825 von dem Franzosen Louis Braille, ertastbar. Konzentriert und gleichzeitig humorvoll erläutert der 67-Jährige den Weg durch die Straßen Ulms am Modell. Danach geht es zu Fuß weiter Richtung Donau, Dorow mit seinem Blindenstock äußerst zielstrebig und keineswegs zögerlich. Begleitet wird der begeisterte Wanderer und Pferdeliebhaber von einem guten Freund, Gerhard Schwenk.
Das Verkehrsmodell „shared space“(geteilter Raum), das auch Oberbürgermeister Ivo Gönner (SPD) ansatzweise in Ulm etablierte, findet Dorow „für Blinde extrem gefährlich“. Hierbei werde auf Ampeln, Bordsteine und andere Verkehrshinweise verzichtet. „Blinde laufen völlig ungebremst in den Verkehr.“Der Behindertenbeauftragte deutet mit seinem Stock auf eine Stahlkante beim Übergang zur befahrenen Straße, die Gönner auf Dorows Anraten hin anbringen ließ und für Sehbehinderte lebenswichtig sei zur Orientierung. Auch die 350 Tastampeln in Ulm sind Dorow zu verdanken.
Nächste Station der Führung: der Fischkasten, Dorows Lieblingsbrunnen. Begeistert fühlt er immer wieder die verschiedenen Strukturen und Formen der Brunnenwände nach. „Früher kauften die Mägde hier ihre Fische, die aus der Blau gefischt wurden“, weiß er. Als er weiterläuft, stößt er gegen ein Rad. Dorow seufzt. „Die größte Gefahr für Blinde in der Stadt: Fahrradfahrer.“Sie führen kreuz und quer, wie sie gerade wollen, und stellten die Räder achtlos ab.
In Augsburg führt die hochgradig sehbehinderte Stadtführerin Claudia Böhme Menschen bewusst zu Orten, wo Geräusche im Vordergrund stehen. „Ich orientiere mich gerne an den Bächen und Flüssen der Stadt.“Bei ihr hätten sich das Gehör und der Riechsinn sehr stark ausgebildet.
Dorow beendet seine Tour im Duft- und Tastgarten. Das Blumenparadies hat er 1978 mit der Stadt und Architekten vor allem für Blinde geplant. Dank vieler Tafeln mit Blindenschrift vor den Beeten und davor eingelassenen geriffelten Steinen im Weg können sich sowohl Sehende als auch Blinde durch die Pflanzenvielfalt spüren. „Leider gibt es recht viel Müll und randalierende Gruppen hier“, sagt Dorow. „Wenn doch nur mehr Leute die Ruhe hier im Garten genießen würden.“