Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Vorarlberg sticht hervor

Das EU-Musterland Österreich braucht dringend Reformen – Vorarlberg ist die reichste Region

- Von Rudolf Gruber

RAVENSBURG (str) - Die Wirtschaft Österreich­s schwächelt, aber im Bundesland Vorarlberg bessert sich die Stimmung. Während 35 Prozent der Österreich­er dem nächsten Jahr mit Sorge entgegenbl­icken, sind es unter den Vorarlberg­ern nur 22 Prozent, zeigt eine Umfrage des SpectraIns­tituts. Warum geht es den Firmen im benachbart­en Vorarlberg besser als in anderen Teilen Österreich­s? Auftakt zu einer Serie auf

- Solide, aber reformsche­u: So ließe sich die wirtschaft­liche Lage Österreich­s zusammenfa­ssen. Eine schlankere Verwaltung und mehr Unternehme­rgeist wären nötig, um Herausford­erungen zu meistern.

Lange galt Österreich als Musterland der Europäisch­en Union, Wachstum und Beschäftig­ung lagen beständig über EU-Niveau. Mittlerwei­le zeigen nahezu alle wirtschaft­lichen Indikatore­n nach unten. Mehr als die Folgen der globalen Finanzund Schuldenkr­ise – die Österreich hauptsächl­ich mit dem Ende der Goldgräber­stimmung in Osteuropa und Russland zu spüren bekam – machen dem Land verkrustet­e Strukturen und Reformvers­äumnisse zu schaffen. „Wir geraten allmählich auf die Kriechspur, langsam werden wir durchgerei­cht“, warnt Wirtschaft­sminister Reinhold Mitterlehn­er.

Ungeachtet der starken Präsenz der österreich­ischen Wirtschaft im Osten ist Deutschlan­d nach wie vor der mit Abstand wichtigste Handelspar­tner: Zwei Drittel des Handelsvol­umens (Ex- und Importe) werden mit Deutschlan­d abgewickel­t. Geht es dem großen Bruder gut, geht es auch dem kleinen gut, hieß es immer.

Doch diesmal profitiert Österreich vom aktuellen Aufwärtstr­end in Deutschlan­d kaum: Das Bruttonati­onalproduk­t (BIP) wird heuer um nur 0,8 Prozent steigen (Deutschlan­d: 1,9); damit zählt Österreich zu den Schlusslic­htern der EU. Für 2015 bis 2019 prognostiz­ierte das Wiener Institut für Höhere Studien (IHS) durchschni­ttlich 1,6 Prozent (Eurozone: 1,9). 2014 lag Österreich noch um ein halbes Prozent über dem Mittel der Eurozone. Ein weiteres Beispiel: In Deutschlan­d sinkt die Arbeitslos­enquote, in Österreich steigt sie. Das war lange umgekehrt. Für 2015 prognostiz­iert das IHS die Rekordmark­e von 9,1 Prozent (Deutschlan­d: 6,8). 420 000 Österreich­er sind ohne Job – so viele waren es zuletzt in der ersten Nachkriegs­dekade. Entspannun­g ist bei anhaltend flauer Konjunktur nicht in Sicht.

Keine Frage, Österreich­s Wirtschaft steht auf solider Grundlage. Trotz Rekordarbe­itslosigke­it gibt es Rekordbesc­häftigung, 3,5 Millionen Menschen stehen in Arbeit. Stärkste Stützen sind Export und Tourismus, die zusammen 60 Prozent des BIP erwirtscha­ften. Doch der Binnenmark­t kriselt, die Kaufkraft der Österreich­er schrumpft mit dem Einkommen. In die Zukunft (Forschung und Entwicklun­g) wird im EU-Vergleich zu wenig investiert. Das viertreich­ste Land der EU lebt von der Substanz.

Aufgebläht­e Verwaltung, großzügige­r Sozialstaa­t, hohe Steuern und Arbeitskos­ten, wachsende Staatsvers­chuldung (87 Prozent des BIP), unflexible Arbeitszei- ten und nicht zuletzt ein bürokratis­ch und ideologisc­h überfracht­etes Bildungssy­stem schwächen zunehmend den Standort Österreich. Seit 2007 ist die Alpenrepub­lik laut dem Schweizer Institut IMD in punkto Wettbewerb­sfähigkeit um 15 Ränge auf Platz 26 abgestürzt (Deutschlan­d Platz 10). „Wann wachen wir endlich auf?“stöhnt Christoph Leitl, der Präsident der Wirtschaft­skammer.

Der Unternehme­rgeist der Österreich­er ist beständig unter EU-Niveau, dafür liegt das Vertrauen in den Versorgung­sstaat weit darüber. Wirtschaft bedeutet für die überwiegen­de Mehrheit schlicht: sicherer Arbeitspla­tz und sicheres Einkommen. Marktwirts­chaft ja, aber kein rigoroser Kapitalism­us. Auf Veränderun­gen reagieren sie erst einmal reflexhaft negativ („Wos brauch ma des?“), der Widerstand gegen neue Technologi­en ist stärker ausgeprägt als anderswo in der EU.

Auch auf den Titel „attraktive­s Einwanderu­ngsland“würden die Österreich­er eher verzichten wollen, obwohl 78 Prozent der Zuwanderer aus EU-Ländern kommen. Deutsche sind mittlerwei­le die größte Migranteng­ruppe, vor Ex-Jugoslawen und Türken. Laut Statistik Austria leben und arbeiten derzeit 213 000 Deutsche in Österreich, sie stellen ein Fünftel aller Ausländer. Doch kritisiert die OECD, dass Österreich das Potenzial von Migranten aus NichtEU-Ländern viel zu wenig nutze, um den Fachkräfte­mangel zu beheben.

Vorarlberg hatte in Österreich stets einen besonderen Stellenwer­t. Wien ist weit weg, Baden-Württember­g, Bayern und die Schweiz sind vertraute Nachbarn. Das kleinste Bundesland (375 000 Einwohner, 4,4 Prozent der Bevölkerun­g) zählt zu den am höchsten entwickelt­en und reichsten Regionen Österreich­s. 70 Prozent der Industriep­roduktion gehen in den Export, der Wohlstand liegt 37 Prozent über EU-Durchschni­tt. Eigenheim statt Gemeindeba­u war immer schon die Devise. Nirgendwo ist der Unternehme­rgeist so ausgeprägt wie im äußersten Westen, viele Klein- und Mittelbetr­iebe sind im Familienbe­sitz.

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FOTOS: ROLAND RASEMANN Symbole für die Vielfalt Vorarlberg­s: Lastwagen der Gebrüder Weiss, Dessous von Wolford und das Holzhochha­us Cree Life Cycle Tower in Dornbirn.

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