Charité-Arzt: Verbote nicht entscheidend
Mediziner meint: Nicht der Lockdown hilft, sondern Hygieneregeln
Die Folgen für das öffentliche Leben durch die Corona-Krise sind massiv. Läden geschlossen, Kontaktverbot, Kitas und Schulen zu: Die Bevölkerung sieht sich mit strikten Maßnahmen und strengen Regeln konfrontiert.
Aber wie notwendig sind die Beschränkungen wirklich? Die Politik hält daran fest: Die Ausgangsbeschränkungen und Geschäftsschließungen bleiben bis nach Ostern bestehen. Mindestens bis zum 19. April. Und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hält auch das nicht für „in Stein gemeißelt“. Sprich: Es kann noch länger dauern.
Ist das zu viel des Guten? Virologe Christian Drosten erinnert immer wieder daran, worauf es ankommt: dass sich die Kurve der Neuinfizierten abflacht und die Krankenhäuser nicht überfordert werden – so wie in Norditalien und jüngst auch in den USA.
Aufhorchen lässt demgegenüber, was Stefan Willich, Direktor des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie an der Berliner Charité, also ein Kollege Drostens, sagt. Auch er hält die derzeit durchgeführten Maßnahmen zwar für gerechtfertigt – ein entscheidender Faktor im Schutz vor dem Coronavirus seien sie allerdings nicht. Das klingt widersprüchlich.
Willich erklärt seine Position so: Entscheidend für die Einschätzung der aktuellen Krisen-Lage sei zum einen die Zahl der Infizierten, die eine intensivmedizinische Behandlung benötigen, zum anderen die Maßnahmen, die erforderlich sind, um die Corona-Fallzahlen einzudämmen.
Problematisch sei aber schon die Zahl der in Deutschland bestätigten Virus-Nachweise. „Das ist eine Zahl, über die kein Mensch Bescheid weiß“, so Willich. „Wir wissen alle, es gibt 70000 bestätigte VirusNachweise in Deutschland. Aber ob die wirkliche Zahl viermal so hoch ist, fünfmal so hoch, ist völlig spekulativ.“
Eine andere Frage sei hingegen die nach der Sterblichkeit durch die Covid-19Krankheit. Denn darüber wissen wir „schon sehr viel“, so Willich. „Wir wissen vor allem, für wen diese Erkrankung tödlich ist.“Dies sei „sehr erfreulich“und „beruhigend“. Denn der Bevölkerungsteil,
für den das zutrifft, ist dem Charité-Arzt zufolge äußerst klein.
Sowohl in Italien als auch in Deutschland hätten diejenigen, die an Corona gestorben sind, ein Durchschnittsalter von 80 Jahren gehabt. Die Hälfte von ihnen sei bereits zuvor ernsthaft chronisch krank gewesen: Diabetes, Herzkrankheiten, Nierenund Lungenfunktionsstörungen.
„Das heißt: Wir haben es hier mit einer sehr kranken Gruppe der Bevölkerung zu tun“, so die Schlussfolgerung. „Das sind erst mal sehr, sehr gute Nachrichten. Weil wir wissen, dass für einen ganz großen Teil der Bevölkerung diese Virus-Erkrankung nicht gefährlich ist.“Man müsse jetzt alle Anstrengungen darauf fokussieren, den Schutz dieser Hochrisikogruppe zu gewährleisten.
Befürchtet worden sei, es könne ein Zustand eintreten, dass die intensivmedizinischen Kapazitäten nicht mehr ausreichen. So wie in Wuhan oder in Bergamo. Viele Modelle seien davon ausgegangen, dass fünf Prozent der Infizierten intensivmedizinische Betreuung benötigten. „Für Berlin kann ich im Moment sagen, es liegt bei unter einem Prozent“, so Willich. „Das heißt, nur ein ganz kleiner Prozentsatz. Das ist erst mal sehr, sehr beruhigend.“
Im internationalen und europäischen Kontext zeige sich seit mehr als fünf Tagen ein signifikanter Trend. „Interessanterweise bleiben die Fallzahlen sowohl in Italien, Spanien und Frankreich stabil, wo strikte Ausgangssperren gelten, aber auch in Holland, wo sehr an die Verantwortung der Bevölkerung appelliert wird, wo Geschäfte offen bleiben, wo man rausgehen darf, und auch in Schweden, wo die Schulen und die Kitas geöffnet bleiben.“
Das heißt: Die restriktiven Maßnahmen sind – so Willich – nicht der entscheidende Faktor. Wichtig seien persönliche Infektionsschutzmaßnahmen: Hände waschen, Abstand halten, einen Mundschutz tragen, wenn man selber infiziert ist. Das sei der gemeinsame Nenner im internationalen Vergleich. „Wohl gemerkt auch in Südkorea, wo es auch keine rigiden Schließungsmaßnahmen gab.“
(...) für einen ganz großen Teil der Bevölkerung ist diese Erkrankung nicht gefährlich. Stefan Willich